: Was tun ohne Vitamin B?
Rückkehr der Klassengesellschaft (3): Ausgestoßen ist, wer nur Ausgestoßene trifft. Beziehungen sind bares Geld wert. Genau deswegen wird darüber eisern geschwiegen
Alexander Graf von Schönburg-Glauchau ist zu bewundern, mit welch heiterer Gelassenheit er sein Schicksal gemeistert hat. Das findet er jedenfalls selbst und hat darüber zahlreiche Kolumnen sowie ein Buch verfasst. Es heißt „Die Kunst des stilvollen Verarmens“. Da liest man dann, wie er einst Redakteur bei den Berliner Seiten der FAZ war, wie er arbeitslos wurde, weil die Zeitung sparen musste, und wie er selbstgenügsam gelernt hat, mit weniger auszukommen. Es muss ja keine Rolex sein.
Man kann die Geschichte auch anders erzählen: Alexander von Schönburg ist der Bruder von Gloria von Thurn und Taxis, die bekanntlich ein Milliardenvermögen erheiratet hat. Seine andere Schwester Maya ist eine geschiedene Flick. Auch er selbst hat standesgemäß gewählt und ist mit Irina von Hessen getraut.
Es ist befremdlich, dass ein Angehöriger der Oberschicht meint, er sei eigentlich Unterschicht. Unfassbar ist allerdings, dass ihm weithin geglaubt wird und sein Armuts-Ratgeber zum Bestseller avancierte. Diese Rollenkonfusion kann nur einer Gesellschaft gelingen, die sich lange nicht mehr darüber unterhalten hat, was ihre Klassen konstituiert.
Armut wird in Deutschland materiell verstanden; arm ist, wer sich einschränken muss. Insofern hat Alexander von Schönburg sogar Recht, wenn er sich vorübergehend zu den Verlierern zählte. Nur ist diese Sicht eben sehr verkürzt. Armut definiert sich nicht rein nach Einkommen, sondern auch sozial. Zum Drama der echten Unterschicht gehört nicht allein, dass sie sehr häufig Hartz IV bezieht – sondern dass sie nur andere Hartz-IV-Empfänger kennt. Es fehlen die nützlichen Beziehungen. Wirklich ausgestoßen ist in dieser Gesellschaft, wer nur Ausgestoßene trifft.
Ein soziales Netzwerk ist bares Geld wert. Das lässt sich auf dem Arbeitsmarkt sehr schön sehen. 2005 wechselten rund 6,2 Millionen Menschen ihre Stelle, doch die Arbeitsagenturen haben nur 16 Prozent der Jobs vermittelt. Manche Angestellter fand seine neue Aufgabe durch eine Anzeige, doch das sind auch nur 19 Prozent. Der riesige Rest steuert seine Karriere informell. Man wird angesprochen. Man kennt sich.
Gegen dieses Vitamin-B-Prinzip ist eigentlich nichts zu sagen, denn es ist für alle Beteiligten hocheffizient: Der Arbeitgeber spart sich aufwändige Bewerberrunden und Assessmentcenter, die letztlich doch nur einen vagen Eindruck der Kandidaten vermitteln. Die Arbeitnehmer wiederum können genauer einschätzen, ob sie sich auf der neuen Stelle wohl fühlen werden, wenn sie ihre potenziellen Kollegen oder Chefs schon länger kennen. Dennoch besitzt „Vitamin B“ einen schlechten Klang, und darin schwingt das gesellschaftliche Wissen mit, dass eben nicht jeder über wertvolle Beziehungen verfügt.
In Zeiten der Pisa-Studien wird nun viel über Bildung und frühkindliche Erziehung geredet, von der vor allem die Unterschichten profitieren sollen. Das ist unbedingt richtig, und dennoch wäre es naiv zu glauben, damit allein schon wäre Chancengleichheit hergestellt, wie die Politik ständig behauptet. Bei der Bildung kommt es nicht nur auf die Inhalte an, sondern auch auf die Klassenkameraden.
Davon ist gerade die Elite überzeugt und sie muss es ja wissen. Jedenfalls sind viele potente Eltern bereit, viel Geld auszugeben, damit ihre Kinder Privatschulen besuchen, um in den richtigen Kreisen zu landen. Am besten im Ausland: 33.000 Dollar kostet ein Jahr in einer durchschnittlichen Upper School in den USA, aber es scheint sich für künftige Bewerbungen zu lohnen, damit den Lebenslauf zu zieren. So wird reales Kapital in soziales Kapital umgewandelt, auf dass es sich wieder amortisiere.
Wenn sich also Alexander von Schönburg als arm geriert, dann ist dies nicht nur eine bizarre Selbsttäuschung – es ist eine Enteignung der echten Unterschichten. Ihnen wird ihre reale Erfahrung genommen. Nach dem Motto: Arm sein kann jeder und deswegen kann es ja gar nicht so schlimm sein. Also stellt euch nicht so an, sondern bringt ein wenig Stil in euer Leben.
Das Problem der echten Unterschichtsangehörigen ist ja nicht, dass sie sich vorübergehend einschränken müssen – es ist ihre Lebensperspektive. Es zermürbt, immer rechnen zu müssen. Tag für Tag, Monat für Monat. Es zermürbt wohl kaum, wenn man sich dabei der Anteilnahme aller Bekannten und Leser so sicher sein kann, dass der Weg zum Ruhm geebnet ist. Der schreibende Graf wurde nicht nur zum Bestsellerautor, sondern wenig später auch zum Chefredakteur des Glamour-Magazins Park Avenue. Den Posten bekleidete von Schönburg zwar nur kurz, aber es ist unübersehbar, dass ihn bereits seine Herkunft qualifizierte. Wer sonst sollte so intim über die Reichen und Schönen Bescheid wissen.
Man muss sich jedoch gar nicht auf den Hochadel kaprizieren, um zu erkennen, dass Beziehungen eine Art geldwerter Vorteil sind. So ist statistisch erwiesen, dass Kinder von Professoren eine deutlich höhere Chance haben, ebenfalls an den Universitäten Karriere zu machen. Im Management zeigt sich die gleiche Tendenz zur professionellen Inzucht, für die die Wissenschaft längst ein Wort gefunden hat: „homosoziale Kooptation“.
Die Armen unterscheiden sich prinzipiell nicht vom Rest der Bevölkerung – auch sie kennen nur Ihresgleichen. Aber bei ihnen wird es zur Schande, weil ihre Verwandten und Bekannten keinen ökonomischen Wert besitzen. Da ist dann von „Sozialhilfe-Karrieren“ die Rede, was suggeriert, dass die Unterschicht zu faul ist, ihren engen Kreis zu verlassen. Als wären die geborenen Eliten nicht auch zu bequem, sich jenseits ihres Beziehungsgeflechts zu bewegen.
Deutschland ist eine Klassengesellschaft – und wird es bleiben. Jede Gesellschaft schichtet sich, dagegen ist nicht anzukommen. Selbst die angeblich so egalitären Schweden haben eine ausgeprägte Elite, die unter sich bleibt und ihre Exklusivität in Society-Blättern zur Schau stellt.
Es geht also nicht darum, die Klassengesellschaft zu überwinden – es wäre schon viel, sie wahrzunehmen. Armut wäre dann kein individuelles Versagen, würde nicht mehr entwürdigen und wäre nicht mehr so „stillos“, dass ein Graf dafür erst einen Stil erfinden müsste.
Diese Anerkennung der Armen bliebe nicht folgenlos. Wenn nicht mehr geleugnet würde, wie ökonomisch wertvoll das soziale Kapital der Herkunft ist, dann ließe es sich ganz regulär in die staatlichen Verteilungsprozesse einbeziehen. Vielleicht wäre eine Vermögensteuer dann keine gefühlte Frechheit mehr. Vielleicht würde es endlich als skandalös auffallen, dass Deutschland vor allem in seine gymnasiale Oberstufe investiert, die die Unterschichten fast nie erreichen. Vielleicht würde auch verstanden, dass man Hartz-IV-Empfänger dafür entschädigen muss, dass sie oft nur andere Hartz-IV-Empfänger kennen. 345 Euro sind dafür viel zu wenig. Schließlich ist die Herkunft in den anderen Schichten so viel mehr wert.
ULRIKE HERRMANN