: Auf dem europäischen Campus zu Hause
Die Universitätsstiftung „Campus Europae“ formt ein neues Studium für den alten Kontinent. In Luxemburg werden die Zertifikate an die ersten waschechten europäischen Akademiker vergeben. Eine Auffrischung der verschütteten Ideale des Erasmus-Stipendienprogramms der EU
AUS LUXEMBURG CHRISTIAN FÜLLER
Kurz nach Mitternacht fallen die Bomben auf Novi Sad zum zweiten Mal. „Soll ich erzählen, wie es ist, wenn man bombardiert wird?“, fragt Nikola Ojkić. Als die Nato wegen des Kosovokonfliktes Serbien beschoss, war er noch in der Schule. Heute ist Nikola 25, studiert Physik und sitzt mit Studentenfreunden in einer Luxemburger Kneipe.
„Es war furchtbar in den Nächten“, erzählt der junge Mann. „Ich hatte nur noch Angst.“ Nachmittags feierte er auf den Straßen der 350.000-Einwohnerstadt. Die Jungen machten Konzerte und betranken sich. „Um sieben mussten wir weg von der Straße. Wir wussten: Jetzt kommen sie wieder.“ Abends versuchte er sich vor den Bombern zu verstecken. „Ich war 16 und das Kosovo 500 Kilometer weg“, sagt Nikola – und dann fragt er die Kommilitonen. „Warum habt Ihr uns damals bombardiert?“
Den Mitstudenten wird ungemütlich. Wenn sie wie Nikola aus dem Osten Europas kommen, haben sie die Erfahrung gemacht, dass das Leben nicht nur aus Partys und ein bisschen Studieren besteht. Die Kommilitonen aus dem Westen merken nun, dass Studentenaustausch mehr sein kann, als andere Trinkkulturen kennenzulernen.
Dabei haben sich alle Studierenden, ob Ost, ob West, am Morgen noch so gut verstanden. Sie sind die Ersten, die gerade in Luxemburg das Zertifikat des „Campus Europae“ erhalten haben. Der Campus ist ein Netzwerk von 17 europäischen Hochschulen, die ihre Studierenden untereinander austauschen. Die Unis liegen irgendwo zwischen dem irischen Limerick und dem italienischen Trient, zwischen Aveiro in Portugal und Łódź in Polen. „Das ist der Beginn einer Entwicklung, die zu weit mehr führt als der Bologna-Prozess“, sagt Noel Whelan, als er den Studenten in der Abtei Neumünster die Zertifikate überreicht.
Whelan ist der Präsident von Campus Europae (CE) und er glaubt, dass seine Studierenden waschechte Europäer werden. Der Ire nennt sie „quintessentially european“ – und damit ganz anders als die Erasmus-Studenten. Das Erasmus-Stipendium gilt inzwischen als eine Art Partyexamen. Haben die Studenten ihre Fetenphase hinter sich, ist ihr halbes Auslandsjahr meist vorbei. Ein paar akademische Credits haben sie dabei eingeheimst, die Landessprache lernen die wenigsten.
Was mache ich hier?
„Als die Erasmus-Studenten weg waren“, erinnert sich der Litauer Kestutis Blazgys an sein Studienjahr in Lüttich, „habe ich mich gefragt: Warum bin ich eigentlich hier?“ Inzwischen weiß er es, der zu den ersten ausgezeichneten CE-Studenten zählt. Er ist zum Abteilungsleiter seines Unternehmens aufgestiegen – weil er im Ausland war.
Das gehört zum Minimalprogramm bei Campus Europae: Die Studenten bleiben ein Jahr, sie lernen die Gastsprache und sie absolvieren ein abgestecktes Studienprogramm. Bald soll es gar einen eigenen europäischen Abschluss geben – für ein 5-Jahres-Programm mit Bachelor, Master und zwei vollen Auslandsjahren an einer der Netzwerk-Unis, verliehen am Sitz der Campus-Stiftung in Luxemburg.
Für sich genommen ist CE eine winzige Veranstaltung. Gerade 120 Studierende hat Campus kreuz und quer über den alten Kontinent verschickt. Das ist nicht viel im Vergleich zu den 140.000 Erasmus-Wanderstudenten und fast nichts im Vergleich zu den 12 Millionen Studierenden Europas. Dennoch ist das Selbstbewusstsein des Netzwerks groß. Die Europaabgeordnete Erna Hennicot-Schoepges sagt: „Warum sollen wir auf Europa warten, wenn es für uns selbst machen können?“ Die ehemalige Luxemburger Kulturministerin ist eine der Campus-Gründerinnen. Für sie ist es der Kern des neuen, des künftigen europäischen Studentenaustauschs.
Den alten, der von Begriffen wie „Erasmus“ oder „Bologna-Prozess“ geprägt ist, sehen diese Europäer kritisch. Erasmus erreicht nur gut ein Prozent Europas Studierender. Und Bologna, also die Umstellung der Studiengänge auf Bachelor und Master, führt zu anderen Ergebnissen als erwartet. „Ich habe die Furcht, dass man damit im Moment eher das Gegenteil erreicht, als die Mobilität der Studierenden zu fördern“, klagt Doris Pack (CDU), Mitglied des Bildungsausschusses im Europaparlament.
Paradoxe Wirkungen
Die Wirkung der Bachelorstudiengänge ist in der Tat paradox. „Der Bachelor ist als Studienprogramm zu einem viel zu engen Korsett geschnürt worden“, schimpft der Generalsekretär von Campus Europae, Christoph Ehmann. „Nahezu europaweit erstickt es jede Selbständigkeit – und damit das, was wissenschaftliches Denken ausmacht.“ Es gibt zu wenig Freiheiten. Weder könnten die Studierenden Auslandssemester einlegen noch nebenher Geld verdienen – was aber die meisten Studierenden in Europa müssen. Vom Ziel der Bachelor-/Master-Reform ist man weit entfernt. Früher träumte man von solchen Studienkarrieren: Studienbeginn in Minsk, Wechsel nach München, Examen in Mailand.
Campus Europae kann solche Erfolgsstorys vorweisen. Michela Brighenti etwa hat ihr Studium in Trient begonnen, mit Campus Europae ist sie nach Riga gewechselt. Jetzt hat sie es in einen Managementkurs an der berühmten Wirtschaftsuni Bocconi in Mailand geschafft – „weil ich an diesem internationalen Programm teilgenommen habe und Englisch kann“, erzählt die 23-Jährige. Oder der Serbe Nikola Ojkić, der sein Physikstudium in Novi Sad begann, dann in Aveiro einen Kurs in „computation physics“ belegte – und so sein Promotionsthema fand. Oder Andrei Horlau aus Weißrussland. Der 22-Jährige begann in Minsk an der Europäischen Humanistischen Universität (EHU). Als ihn sein Auslandsjahr nach Greifswald führte, stoppte das Regime Lukaschenko die EHU in Minsk. CE und die Uni Greifswald sorgen nun dafür, dass Horlau zu Ende studieren kann.
Campus Europae will kein Anti-Erasmus-Projekt sein. „Wir wollen Erasmus verbessern, nicht abschaffen“, sagt Generalsekretär Christoph Ehmann. Campus selbst muss ja seine Attraktivität erst noch beweisen – gerade für Westeuropa. Es ist kein Problem, osteuropäische Studis in den Westen zu holen. Aber zum Studieren nach Riga, Kaunas, Novi Sad oder Łódź geht nicht jeder Westler. „Ich wusste vor meinem Studium dort gar nicht, dass es Łódź überhaupt gibt“, gestand etwa ein Franzose dem Vorsitzenden des CE-Studentenrats, Krzysztof Kałużny. „Jetzt kann ich in Lyon erzählen, dass bei euch viel mehr los ist.“
Aber es sind wahrscheinlich gar nicht die akademischen Weihen, die den CE-Studierenden neue Horizonte öffnen. Es ist banaler – und zugleich abstrakter, was ein einjähriger Aufenthalt weit weg von der Heimatuni bringt. Die Polin Marta Jóźwiak ging nach Limerick, um Jura zu studieren. „Man muss sich schlicht und einfach durchsetzen, man lernt, selbst zurechtzukommen“, erzählt die 24-Jährige aus Łódź. Das Wichtigste, was sie gelernt hat? Marta sagt jetzt nicht, dass sie nun viel von europäischem Recht versteht oder eine bessere Anwältin wird. Sie nennt etwas, dessen Bedeutung sie in der polnischen Gesellschaft auf diese Weise nicht kennengelernt hatte: Toleranz.
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