„Zu milde Urteile für Wirtschaftskriminelle“

Von der Überlastung der Strafkammern profitieren die Straftäter, kritisiert die Staatsanwältin Vera Junker. Berlin dürfe kein gutes Pflaster für Wirtschaftskriminelle werden. Die seien unglaublich kreativ, um die Gesetze zu umgehen

taz: Frau Junker, die rot-rote Koalition will am Landgericht zwei weitere Wirtschaftsstrafkammern einrichten. Was halten Sie davon?

Vera Junker: Das ist eine absolut sinnvolle Maßnahme. Wirtschaftsanklagen bei Nichthaftsachen liegen beim Landgericht zurzeit im Durchschnitt 20 Monate auf Halde, bis der Prozess beginnt. Für die Polizei und Staatsanwaltschaft ist das sehr frustrierend, denn der Ermittlungsaufwand in Wirtschaftsverfahren ist ungemein groß. Zudem handelt es sich um Taten von einem erheblichen Unrechtsgehalt mit einer hohen Straferwartung. Im Endeffekt profitiert der Beschuldigte davon, weil er mit einer milderen Strafe davonkommt.

Nur weil sich die Justiz so lange Zeit lässt?

Richtig. Die Justiz ist verpflichtet, zügig zu agieren. Wenn bestimmte Fristen überschritten werden, führt dies nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs automatisch dazu, dass das Strafmaß herabgesetzt werden muss. Das Ergebnis ist, dass Wirtschaftsstraftäter im Vergleich zu anderen Straftätern unangemessen milde abgeurteilt werden.

Der häufig zitierte Satz trifft also zu: Weiße-Kragen-Kriminelle lässt die Justiz laufen, aber Eierdiebe bestraft sie hart?

Leider ja. Zahlenmäßig sind diese Täter nicht viele, aber sie produzieren immense Schäden. Auch aus wirtschaftlichen Gründen ist es deshalb notwendig, die Justiz durch zwei neue Strafkammern zu verstärken. Es wäre nicht gut, wenn sich herumspricht, dass Berlin ein günstiges Pflaster für Wirtschaftskriminelle wäre.

Wären die nach dem Ausbau insgesamt sechs Kammern am Landgericht ausreichend?

Eigentlich müssten wir sieben Strafkammern haben, wenn wir im Verhältnis Wirtschaftsstaatsanwälte zu Wirtschaftsrichtern beim Landgericht auf den Bundesschnitt kommen wollten. Aber die VBS will nicht immer nur meckern. Jede Kammer mehr trägt zur Verbesserung bei.

Das letzte Wort ist aber noch nicht gesprochen. Nicht die Politik, sondern das Gerichtspräsidium entscheidet.

Es wird ein Streit darüber losgehen, weil die Ressourcen überall knapp sind. Was die Liegedauer der Verfahren angeht, ist Wirtschaft aber am hinteren Ende. Polizei und Staatsanwaltschaft ermitteln wie der Hamster im Laufrad und dann passiert nichts. Das ist kein Zustand.

Sie selbst sind seit 14 Jahren Wirtschaftsstaatsanwältin. Was interessiert Sie an dem Thema?

Es ist unglaublich, was sich Wirtschaftskriminelle so alles an Tricks einfallen lassen, um Gesetze zu umgehen. Sie fühlen sich unserem Strafgesetz teilweise richtiggehend enthoben. Ich finde es hochgradig spannend, ihnen auf die Schliche zu kommen.

Was für ein Selbstbild haben die Täter?

Sie meinen, sie seien raffiniert, aber nicht kriminell. Insbesondere bei Steuerdelikten zum Schaden der Allgemeinheit ist kein Unrechtsbewusstsein vorhanden.

Wie groß ist deren Bereitschaft zur Wiedergutmachung?

Gegen Ende des Verfahrens heißt es meistens: Jetzt habe ich überhaupt kein Geld mehr. Durch Gewinnabschöpfung gelingt es uns in der Regel allenfalls, einen Bruchteil des Schadens wieder zu bekommen, weil keine Vermögenswerte mehr vorhanden sind.

INTERVIEW: PLUTONIA PLARRE