LEUCHTEN DER MENSCHHEIT WOLFGANG GAST
: Anti-Ödipus im Discounter

Der Satz sorgte für Befremden. „Wenn der Leser nicht zum Buch kommt, muss das Buch zum Leser kommen.“ Zugeschrieben wurde er dem 2002 verstorbenen Verlagschef Siegfried Unseld, und abgedruckt stand er in einer Broschüre, mit der eine angeblich neue Buchreihe unter dem Titel „edition sual“ beworben werden sollte: „sual“ stand für eine sensationell anmutende Kooperation zwischen dem Suhrkamp Verlag und dem Lebensmitteldiscounter Aldi.

Es ist der 15. Oktober 1981, Unseld tobt. Wir sind am Suhrkamp-Stand auf der Frankfurter Buchmesse. Üblicherweise wird spekuliert, wer den Literatur-Nobelpreis bekommt. Jetzt wird aber gerätselt, wer hinter der satirischen Werbeaktion stecken könnte, nach der Klaus Theweleit nun einen „Aldi-Ödipus“ verfasst haben soll, der demnächst in den Aldi-Filialen zu kaufen sei. Der Spiegel verkündete schließlich die Lesart, die sich 30 Jahre halten sollte. Die Broschüre, meldete das Magazin, stamme „von einem Suhrkamp-Experten aus dem Dunstkreis der Berliner Tageszeitung“. Und noch im August 2010 berichtete die Stuttgarter Zeitung, edition sual sei „ein satirischer Doppelangriff der linksalternativen Tageszeitung taz“.

Alles falsch, sagt jetzt Wolfgang Kraushaar, Chronist der 68er-Bewegung. In der aktuellen Zeitschrift Mittelweg 36 outete er die Autoren. Danach gehörten die Verfasser nicht zum taz-Umfeld, sie kamen aus dem linken Verlagsgewerbe: Es waren Mitarbeiter des Berliner Verlags Klaus Wagenbach, Lektor Thomas Schmid und Verlagsassistent Thomas Platt. Beide sind auch heute keine Unbekannten. Schmid konvertierte, wurde zum Herausgeber der Welt-Gruppe, Platt verfasst unter anderem Drehbücher. „Werner – Das muss kesseln“ zum Beispiel.

Der Autor ist Redakteur der taz Foto: privat