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Archiv-Artikel

Machtlos glücklich

FREIHEIT Die Grünen fiebern dem Regieren entgegen. Kerstin Müller ist froh, dass sie nicht mehr vorn steht. So wie 1998, als sie Rot-Grün repräsentierte

„Der Druck, die Konkurrenz. Das geht an die Substanz. Das vermisse ich nicht“

KERSTIN MÜLLER, EX-FRAKTIONSCHEFIN

VON KIRSTEN KÜPPERS

Sie kommt herein, und diese Abwesenheit hängt an ihr dran. Diese kurzzeitige Unkonzentriertheit, die kleine Kinder auf ihre Mütter werfen, sobald sie sie von der Kinderwelt in die Erwachsenenwelt ziehen lassen. Das Kind ist fünf, sitzt krank zu Hause mit der Kinderfrau. Kerstin Müller ist Mutter jetzt, sie ist auch außenpolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag. In zwei Tagen fliegt sie in den Sudan. Kerstin Müller hat zu tun.

Aber wenn Müller derzeit Nachrichten guckt, die immer noch satten Umfragewerte der Grünen sieht; wenn sie abends auf einer dieser Parteiveranstaltungen steht und die Menschen ihr auf die Schulter klopfen, schon davon reden, dass sie Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg und Berlin gewinnen könnten; wenn es in den Zeitungen schon um die Rückkehr rot-grüner Regierungen geht; auch wenn Müller hier ins Café des Außenministeriums kommt und die Leute grüßen: Dann wird sie doch sehr von ihrem alten Leben eingeholt.

Von ihrem Leben, als sie nicht 47 war, sondern gut zehn Jahre jünger, als sie zuerst Fraktionschefin der Grünen wurde, dann als Staatsministerin zu Joschka Fischer ins Außenministerium gewechselt ist. Als Kerstin Müller eines der bekanntesten Gesichter von Rot-Grün war.

Die Hoffnungen, den Erfolg, die Anspannung. Müller hat das alles schon mal erlebt. Sie hat die erste Runde Rot-Grün aus nächster Nähe mitbekommen. Was passiert mit einer Politikerin, wenn es in die Regierung geht? Und was mit den Grünen?

Sie sitzt vor der gelb gestrichenen Wand des Cafés, dieselben glatten dunklen Haare wie immer, eine Frau, die die Frisur ihres Lebens vor langer Zeit gefunden hat. Weiches Gesicht, braune Augen, brauner Blazer, braune Hose. An diesem Vormittag trägt Müller zudem noch eine Art Rüstung aus Misstrauen, die sie sich wohl in ihrer Zeit als grüne Risiko-Managerin zugelegt hat. Sie will nicht fotografiert werden. Sie macht sich Sorgen über ihre Haare, will die Kontrolle behalten. Den Medien traut sie nicht. Sie war fünf Jahre mit einem Journalisten verheiratet.

Über die zweistelligen Umfragewerte der Grünen sagt sie: „Das freut uns jetzt. Aber in diesem Wahljahr steht da erst mal der Realitätstest bevor. Der kann anders aussehen.“

Müller weiß, wie es ist, wenn die Wirklichkeit einen einholt.

Als Helmut Kohl gefallen war zum Beispiel. Der Jubel, der damals 98 in Bonn in hohen Wellen über sie und ihre Kollegen toste, die Sektgläser, die Träume vom besseren Land. Sie war jung, ihre Karriere oben angekommen.

Die Ernüchterung ließ nicht lange auf sich warten.

Der SPD-Kanzler Schröder stellte mit seinem Satz „Der Größere ist Koch, der Kleinere Kellner“ schnell die Verhältnisse klar. Müller schaut böse.

Sie haben einiges erreicht, sie zählt auf: Erneuerbare-Energien-Gesetz. Reform des Staatsbürgerschaftsrechts. Homoehe.

Aber vor allem mussten die Grünen Kompromisse machen. Die Partei wirkte getrieben. Aus vielen Auseinandersetzungen gingen sie zerrupft heraus. Schröder war kein einfacher Bündnispartner, Fischer kein einfacher Kollege. Die Männer gaben den Ton vor, Kerstin Müller musste den Menschen im Land dann alles erklären: „Als Fraktionssprecherin muss man zu jeder Tages- und Nachtzeit zu jedem Thema etwas sagen können.“ Sie guckte in die Kameras, sprach in Mikrofone, abends saß sie in irgendeiner Talkshow, hielt den Kopf hin. Sie war dauernd für alles verantwortlich. Sie reiste nach New York, in die Sahelzone, die Tage waren zu kurz für das, was die Büroleiter reinpackten. „Der Druck, die Konkurrenz. Das geht mit der Zeit an die Substanz“, erklärt sie. „Das vermisse ich nicht.“

Die Wirklichkeit hat Müller und ihre Partei nicht geschont. Macht zu haben und zu behalten – das kostet. Der im März 99 begonnene Krieg gegen Jugoslawien riss an den Grünen. „Einer der schwersten Momente für mich“, sagt sie. Sie stellte sich als Parteilinke hinter die Angriffe.

Und noch einmal zog das Land mit den Grünen in den Krieg. Nach dem 11. September 2001 verknüpfte Schröder die Entscheidung, deutsche Soldaten nach Afghanistan zu schicken, mit dem Fortbestand der Regierung. Müller musste Kollegen überreden, gegen ihre Überzeugung zu stimmen. Gegen ihre eigene Überzeugung auch. Damit die Koalition hielt. „Fürchterlich. So eine Gewissensfrage darf man nicht mit dieser knallharten Machtfrage verbinden“, ruft sie. „Das ist eine offene Wunde. Bis heute.“ Sie ist nicht fertig damit.

Geschieße und Getrete

Aber sie ist raus aus dem parteipolitischen Verletzungsgeschäft, dem Geschieße und Getrete. Renate Künast und Claudia Roth sind dabei geblieben, sie machen immer noch weiter. Kerstin Müller hat ein Kind gekriegt. Es ist ruhiger geworden um sie, ein wenig langweiliger vielleicht.

Als außenpolitische Sprecherin einer Oppositionspartei kann sie ein Leben neben der Politik haben. Sie macht keine Machtpolitik mehr, sie macht Fachpolitik. Sie ist nur noch für ihre eigenen Entscheidungen verantwortlich. Weiterhin setzt sie sich für den Sudan ein. Sie hat einen „Unterausschuss für zivile Krisenintervention“ initiiert. Es ist kein Ausschuss, über den die Leute in Deutschland andauernd reden. Sie gibt Interviews zum arabischen Frühling, fordert die EU, klarer Stellung für die Demokratiebewegungen zu beziehen.

Aber neulich hat sie sich mit Renate Künast darüber unterhalten, wie schön es ist, wenn man an der Regierung ist und wirklich gestalten kann. „Das ist einfach spannender“, gibt sie zu. Sie lacht. Sie hat den anderen Weg eingeschlagen, ihr Glück hängt jetzt nicht mehr an der Macht.

Das Misstrauen hat sie abgeschüttelt. Im Innenhof des Auswärtigen Amts, gleich neben dem Café, gibt es ein grünes Beet. Im Beet stehen hohe Bäume. Kerstin Müller stellt sich ins Beet und lässt sich neben einem Baum sogar fotografieren.

Es muss nicht laufen wie damals. Merkel ist nicht Kohl, Gabriel nicht Schröder. Das könnte für die Grünen besser sein, das hört sich nur weniger aufregend an. Müller meint: „Ich rate uns, keine Versprechungen zu machen, von denen wir heute schon wissen, dass wir sie später nicht einhalten können.“ Das klingt ehrlich, aber auch weit weg. Wenn die Grünen wieder an die Regierung kommen sollten, wird Kerstin Müller nicht in der ersten Reihe stehen. Sie sagt: „Da sind jetzt andere dran.“