Existenzielle Crashkurse

Das Kinder- und Jugendfilmfest mischt Kämpferisches mit Skurrilität und Warmherzigkeit. Vor allem aber lädt es dazu ein, eigene Entdeckungen zu machen und mal wieder mit den Großeltern zu reden

VON DAVID DENK

Ein Junge sitzt am Computer und surft im Internet. Auf Webseiten sieht er Fotos alter Menschen, die so verwahrlost aussehen, dass der Junge erschrickt. Ihre starren Blicke lassen ihn nicht mehr los. Er beschließt, einen Dokumentarfilm über die Missstände in den Altersheimen seiner Stadt zu drehen.

Der amerikanische Regisseur Michael Schroeder hat „Generation“, den neuen, übergreifenden Namen der Berlinale-Sektionen Kinderfilmfest (jetzt „Kplus“) und der Jugendschiene „14plus“, thematisch gelesen – und mit „Man in the Chair“ einen rührenden Generationenfilm eingereicht. Darin hat der Junge Cameron (Michael Angarano) nicht nur die Idee für einen Film, sondern er weiß auch ganz genau, wer ihm beim Dreh helfen soll: die Beleuchter-Legende Glenn „Flash“ Madden (Christopher Plummer) und seine Freunde nämlich, allesamt in einem Altersheim endgelagerte Hollywood-Veteranen. Das Thema von Camerons Dokumentarfilm spiegelt sich also in Schroeders Spielfilm und wirft beim Zuschauer unweigerlich die Frage auf, wie eine Gesellschaft es sich leisten kann, den enormen Wissens- und Erfahrungsschatz der Alten so unwürdig aussterben zu lassen. Die Botschaft ist klar: Wer noch Großeltern hat, sollte mit ihnen reden.

In Deutschland, so die Erfahrung des „Generation“-Leiters Thomas Hailer, gilt allerdings nicht nur Alter als Makel. „Hierzulande wird Kindheit allzu oft als Krankheit gesehen, die es zu überwinden gilt“, sagte er in einem Interview zu seinem Amtsantritt bei der Berlinale 2003. Eine Krankheit, die sogar den künstlerischen Ruf von Filmemachern befallen kann: „Der Kameramann, der seinen Kollegen beim Stammtisch erzählt, er mache jetzt einen Kinderfilm, der bekommt Kondolenzschreiben.“ Dementsprechend wenige Filme aus dem Gastgeberland des weltweit wichtigsten Festivals für Kinder- und Jugendfilme laufen in Hailers Sektion. Er sieht’s gelassen: „Wir kümmern uns nicht um die Quote.“

Von 25 Langfilmen im Kinder- und Jugendwettbewerb ist in diesem Jahr ein einziger aus Deutschland, „Blöde Mütze!“ von Johannes Schmid. Die Geschichte einer Freundschaft von drei Pubertierenden in der brandenburgischen Provinz ist sicherlich nicht der beste Beitrag: ein Film wie Sommerferien, die man zu Hause verbringt, während alle Freunde im Urlaub sind – immer noch besser als Schule, aber auch ziemlich öde. „Blöde Mütze!“ zeigt jedoch, dass selbst eher unambitionierte Kinderfilme nicht nur Li-La-Laune-Geschichten erzählen. So geht es um die erste Liebe und den ersten Liebeskummer, Alkoholismus, die Nöte eines Scheidungskinds, Ehekrach und darum, dass man selbst mit den liberalsten Eltern nicht immer einer Meinung sein kann – ein existenzieller Crashkurs in 90 Minuten.

Auf die harte Tour präsentiert sich das Leben im brasilianischen Beitrag „Antonia“. Hier geht es buchstäblich um Leben und Tod. Und um die Musik als Ventil und – so kitschig das klingt – Rettung. Regisseurin Tata Amaral hat mit den Produzenten von „City of God“ einen Buddy-Film gedreht – statt zwei Männern stehen allerdings vier junge Frauen im Mittelpunkt. In einer ärmlichen Vorstadt von São Paulo gründen sie die Rapgruppe „Antonia“, die wegen Eifersüchteleien, männlichem Chauvinismus und einem Gefängnisaufenthalt zwischenzeitlich zur One-Girl-Show schrumpft. „Antonia“ ist zwar längst nicht so bildgewaltig wie „City of God“, dafür aber umso kämpferischer.

Nicht aufgeben! Das hat sich auch die kleine Amina (Beylula Kidane Adgoy) nach dem plötzlichen Tod ihres Großvaters vorgenommen, mit dem sie als Illegale nach Schweden gekommen ist. Nun will sie bei Johan (Gustaf Skarsgård) bleiben, der beide vorübergehend aufgenommen hatte. Johan ist ein kindsköpfiger Hilfsarbeiter, der nebenbei in einer Heavy-Metal-Band spielt. Er träumt vom Aufbrechen, er will berühmt werden, touren, den ganzen Dreck hinter sich lassen. Amina aber will nichts lieber als ankommen, nie wieder flüchten müssen, ein Zuhause. „Abgerockt“ von Ylva Gustavsson und Catti Edfeldt erzählt nicht nur von der Annäherung der beiden, „Abgerockt“ ist auch Krimi, Liebesfilm, Musical – und vor allem warmherziges Familienkino.

Wesentlich weniger massenkompatibel ist die neuseeländische Komödie „Eagle vs. Shark“ von Taika Waititi. Die Liebesgeschichte zwischen Jarrod (Jemaine Clement) und Lily (Loren Horsley) nährt einmal mehr das Vorurteil, dass abgelegene Inselvölker irgendwie anders ticken – im Zweifel nicht ganz sauber. Während der Pressevorführung kamen einige Journalisten vor Lachen kaum noch zum Atmen – sie überlebten, nur der Film erstickte irgendwann an seiner ungebrochenen Skurrilität. Eingeschränkt empfehlenswert.

Noch nicht einmal das ist „Love & Dance“ von Eitan Anner, der „Billy Elliott“ nach Israel verlegt – auweia. Auch der Eröffnungsfilm „Mimzy – Meine Freundin aus der Zukunft“, bei dem „Herr der Ringe“-Produzent Robert Shaye Regie geführt hat, ist eher fades Popcorn-Kino. „So einen Film erwarten die Leute von einem politischen Festival wie der Berlinale am wenigsten“, kommentiert Sektionsleiter Thomas Hailer die Entscheidung.

Ein Anruf bei ihm ergibt, dass man die falschen Filme gesehen hat. Kurzer Schock. Was jetzt? Hailer spricht von „eigenen Entdeckungen“. Stimmt. Auf die freut man sich bei Festivals doch eh am meisten. Braucht doch noch jemand Empfehlungen? Das sind Hailers: „Das Internat“ (Thailand), „Mukhsin und ich“ (Malaysia), „The Fall“ (USA/Indien) und „Iskas Reise“ (Ungarn).