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Archiv-Artikel

Weg ins Nirgendwo

Pop führt weiter, als man denkt: Der amerikanische Young-@-Heart-Chor beweist es im Festsspiele-Haus

Alt werden mit Pop, das klingt nach einem Rezept gegen Vergreisung. So müsste es in Zukunft vielleicht Rentnerpflicht werden, einem Popchor beizutreten. Dies haben die Mitglieder des amerikanischen Young @ Heart Chorus aus Northampton, Massachusetts, längst getan. Anstatt des oft von betagten Menschen bevorzugten Liedguts singen sie Rolling Stones, The Clash oder Roxy Music.

Singen hat natürlich einen nicht zu unterschätzenden therapeutischen Wert. Es massiert angenehm das Zwerchfell, und das Lernen von Texten hält den Kopf auf Trab. Doch Young @ Heart geht es um mehr: Mit dem Wissen, dass sich Popsongs, besonders nihilistische, stets auf alles Mögliche anwenden lassen, unterziehen sie die Texte erbarmungslos einem Re-Reading in Hinblick auf Gebrechen und den Tod. Tatsächlich klingt es vollkommen anders, wenn statt den Talking Heads eine Gruppe im Alter von 74 bis 93 Jahren trällert: „We’re on a road to nowhere“.

Als Young @ Heart ihr Gastspiel im Haus der Berliner Festspiele am Donnerstag begannen, konnte einem geradezu schwindelig werden angesichts der Unverfrorenheit, mit der die Chormitglieder ihr eigenes nahendes Ableben und den beschwerlichen Weg dorthin besingen. „Highway to Hell“ verkniffen sie sich zwar, doch ansonsten wurde vom Ermattetsein, vom Erblinden und der Verwirrtheit bis hin zur Schlaflosigkeit fast nichts ausgelassen: Vor dem beinahe ausverkauften Saal gaben sie „I’m So Tired“ von den Beatles, „Dancing in the Dark“ von Bruce Springsteen, „I’m All Lost in the Supermarket“ von The Clash und „I Wanna Be Sedated“ von den Ramones. Dazu bewegten sie sich durch eine ihrem Proberaum in Northampton nachgebildete Kulisse und eine perfekt auf ihren jeweiligen Fitnessgrad zugeschnittene Inszenierung.

Stets im Zentrum des Geschehens: Eileen Hall, mit 93 Jahren Dienstälteste von Young @ Heart. Sie thront in der Mitte der Bühne, und der giftgrüne Zettel vom Flughafenzoll an ihrem Rollstuhl zeigt, dass sie verdammt stolz darauf ist, noch so weit in der Welt herumzukommen. Manchmal dachte man, sie sei eingeschlafen, bis sie die Augen wieder aufriss, um keck zu fragen: „Should I stay or should I go?“ „Stay!“, rief das Publikum und erhob sich zu stehenden Ovationen, mit denen man die Bedenken, ob Young @ Heart nicht möglicherweise nur ein schlechtes Gimmick oder die bislang perfideste Ausgeburt des nicht existenten amerikanischen Sozialversicherungssystems sind, voller Ehrfurcht, nun ja, begraben musste. JAN KEDVES

Haus der Berliner Festspiele, 18. 11., 20 Uhr