Eine echte Premiere vor Gericht

FRANKREICH Wegen Veruntreuung öffentlicher Gelder und illegaler Parteienfinanzierung muss sich der frühere Staatspräsident Jacques Chirac jetzt doch noch verantworten

Im Vorfeld war alles versucht worden, um Jacques Chirac diesen Prozess zu ersparen

AUS PARIS RUDOLF BALMER

In Paris begann gestern Nachmittag der mit großer Spannung erwartete Prozess gegen den früheren Staatspräsidenten Jacques Chirac. Es ist eine Premiere für Frankreich, dass ein Staatschef der Fünften Republik vor den Richter zitiert wird. Dem heute 78-jährigen Chirac und mehreren in diesem Prozess ebenfalls angeklagten ehemaligen Mitarbeitern wird Veruntreuung öffentlicher Gelder und Amtsmissbrauch zur illegalen Parteifinanzierung vorgeworfen. In der Zeitspanne von 1992 bis 1995, als Chirac zugleich Bürgermeister der Hauptstadt, Chef der Gaullistenpartei RPR und danach auch Präsidentschaftskandidat war, seien in mindestens 28 Fällen aus Gefälligkeit Personen auf Kosten der Stadt Paris angestellt und entlohnt worden, die in Wirklichkeit exklusiv für Chiracs RPR oder aber gar nicht arbeiteten.

Chirac selbst hatte jeden Amtsmissbrauch öffentlich abgestritten: Alle auf sein Geheiß angestellte Leute hätten effektiv gearbeitet und ihre Verträge seien von den Stadtbehörden offiziell bewilligt worden. Der Rest sei Verleumdung und geradezu „abracadabrantesque“, sagte Chirac dazu im Fernsehen. In dieselbe Ära entfallen auch andere Finanzskandale, in denen Chirac als Pariser Bürgermeister ins Zwielicht illegaler Parteifinanzierung oder Bestechung bei der Vergabe öffentlicher Aufträge geriet und mehrere seiner Mitarbeiter verurteilt wurden. Nicht weniger als zwölf Untersuchungsrichter wollten den Präsidenten insgesamt zur Verantwortung ziehen, sie scheiterten aber an der Immunität, die er als Staatsoberhaupt bis 2007 genoss.

Auch bei der gestrigen Eröffnung der Verhandlung blieb der Platz des prominentesten Angeklagten erst einmal leer. Das Gericht hatte Chirac von der Anwesenheit am ersten Prozesstag dispensiert. Der frühere Staatspräsident hat zwar mitteilen lassen, er gedenke seinem Prozess beizuwohnen, aber er ist sichtlich gealtert und leidet an Gedächtnisschwäche und Absenzen. Bernadette Chirac hatte kürzlich dementiert, dass Ärzte bei ihrem Gatten die Alzheimer-Erkrankung diagnostiziert hätten.

Das jetzige Verfahren wegen der „fiktiven Posten“ ist der letzte gerichtliche Angriff, den Chirac fürchten muss. Im Vorfeld war alles versucht worden, um ihm diesen Prozess zu ersparen. Die Stadt Paris hatte gegen eine finanzielle Entschädigung von 2,2 Millionen Euro durch Chirac und die heutige Regierungspartei UMP darauf verzichtet, als Kläger aufzutreten. Selbst der Generalstaatsanwalt von Paris, Jean-Claude Marin, erklärte vor Prozessbeginn, dass er ursprünglich eine Einstellung des Verfahrens befürwortet habe und jetzt einen Freispruch des ehemaligen Staatschefs beantrage.

Morgen will das Gericht über einen verfassungsrechtlich begründeten Antrag der Verteidigung entscheiden, den Prozesses wegen einer möglichen Verjährung auf unbestimmte Zeit zu verschieben. Sollte dem stattgegeben werden, wäre der erste Prozesstag in diesem Fall auch schon der letzte gewesen.