: Ängste, Triebe, Kobolde
Wow. 2.800 Minuten Shakespeare – alle deutschen Hörspiel-Vertonungen seit 1949 auf 40 CDs. Eine geballte Ladung. Und es fragt sich: Ist sie denn überhaupt zu bewältigen?
Ein Klotz. 40 CDs in einer Box. 2.800 Minuten Laufzeit. Und das nicht mit Musik, die man im Notfall noch so nebenher laufen lassen könnte, nein – Shakespeare. Dringender als bei Buchprojekten von gigantischem Ausmaß stellt sich hier zunächst einmal die Frage nach der Zielgruppe. Dass der Kreis von Hörbuchkäufern sich mittlerweile über den Kreis bügelnder Hausfrauen, die nicht zum Lesen kommen, ausgeweitet hat (so viele bügelnde Hausfrauen kann es gar nicht geben, als dass sie all die Massen an Hörbüchern kaufen könnten), versteht sich von selbst. Was aber stellt man mit 40 Shakespeare-Tonträgern an? Installiert man sie im CD-Wechsler im Auto, so dass auf langen Dienstfahrten der Stoff nicht ausgehen kann? Spielt man sie sich auf den iPod? Setzt man sich an kalten Winterabenden gemeinsam mit der Familie vor den Kamin, damit auch die Kinder schon früh mit der Hochkultur in Berührung kommen? Oder ist das Shakespeare-Archiv so etwas Ähnliches wie Eichborns Andere Bibliothek: eine schöne, aber ungenutzte Dekoration fürs Bücherregal?
Die Shakespeare-Kompilation wurde von Herausgeber Peter Geyer aus den Archiven deutscher Rundfunkanstalten zusammengetragen. Die Aufnahmen stammen aus den Jahren 1949 bis 2001; keine einzige Aufnahme aus der Weimarer Republik, so schreibt Geyer in seinem Vorwort zum umfangreichen Begleitheft, habe den Krieg überstanden. Und auch seit 1945 ist noch nicht jedes Shakespeare-Stück für eine Hörspielvertonung bearbeitet worden. Es fehlen beispielsweise „Der Widerspenstigen Zähmung“ und „Wie es euch gefällt“ ebenso wie „Heinrich V.“, „Heinrich VI.“ und „Heinrich VIII.“.
Zehn Tragödien, fünf Königsdramen und zwölf Komödien sind auf der Sammlung enthalten, und man stellt erstaunt fest, dass es kaum einen der großen deutschen Schauspieler gegeben hat, der sich nicht zumindest einmal in einer Shakespeare-Rolle versucht hat. Man trifft auf den jungen Klaus Kinski in der Rolle des Romeo; Marianne Hoppe gibt die zusehends dem Wahnsinn anheim gegebene Lady Macbeth; Fritz Kortner spielt den King Lear, begleitet von Bernhard Minetti als Narr; Will Quadflieg spricht den Kaufmann von Venedig; und nein, es ist nicht Pumuckl, der den Ariel in „Der Sturm“ spricht, oder eben doch, weil es einen Zeitpunkt in der bundesrepublikanischen Hörspiel- und Fernsehgeschichte gab, an dem Hans Clarin und der Kobold nicht mehr voneinander zu trennen waren.
Überhaupt ist das Shakespeare-Hörspielarchiv nicht nur ein Gang durch das Werk des Dramatikers, sondern in mindestens ebenso großem Maß ein Streifzug durch die Geschichte der deutschen Schauspielerei; eine Fundgrube für Nostalgiker. Silvia Bovenschen überlegt in ihrem Buch „Älter werden“, wann sie damit angefangen habe, Schauspieler in Filmen, die sie im Fernsehen sieht, in Lebende und Tote zu unterteilen. Sie hätte hier eine ganze Menge zu tun.
Kann das gut gehen, Dramen, Bühnenstücke in den leeren Raum hineinzusprechen, ohne Visualisierung? Es kann. Wenn auch, versteht sich, die Sprecherleistungen und -umsetzungen sich nicht durchgängig auf dem gleichen Niveau bewegen. Abgelebt wirken die Produktionen darum nicht, weil, eine Binsenweisheit und doch wahr, Shakespeare ein Autor ist, der keine Zeit braucht, der von Grundkonstanten des Menschlichen erzählt, von Träumen, Ängsten, Trieben. Verträgt man davon diese geballte Ladung? Ist sie überhaupt zu bewältigen? Im Bücherregal macht sie sich sicher gut. Und das erstaunliche Paradoxon, das sich hier wiederum bemerkbar macht, ist der Umstand, dass wenige Jahrzehnte alte Aufnahmen in ihrer technischen Qualität überholter wirken als ihr knapp 500 Jahre alter Gegenstand.
Was also, noch einmal, fängt man mit diesem Klotz an? Vielleicht doch erst einmal vorsichtig ausprobieren, beim Bügeln? Schaden kann das auf keinen Fall. CHRISTOPH SCHRÖDER
William Shakespeare: „Das Hörspiel-Archiv“. Random House Audio, 40 CDs, 99 €