: Ein Programm als schlaffe Fahne
Stolz sollen die Genossen darauf sein – aber was, wenn es langweilig ist
AUS BREMEN JENS KÖNIG
Mit dem Vertrauen zwischen der Parteiführung und den einfachen Mitgliedern ist das in der SPD so eine Sache. Um dieses Vertrauen wieder herzustellen, muss Hubertus Heil schon sein ganzes Gewicht einsetzen. Davon schleppt der Generalsekretär der Partei trotz seiner erst 34 Jahre zum Glück schon eine ganze Menge mit sich herum. „Als Kind war ich dünn, das müsst ihr mir glauben“, sagt Heil zu den Genossen da unten im Saal. „Ich kann das sogar beweisen. Ich habe Fotos aus der Zeit.“
Ein Lachen geht durch die Reihen in der Bremer Messehalle. Der Generalsekretär hat die Genossen auf seiner Seite. Jetzt kann er seine Botschaft loswerden. „Heute sind viele schon als Kinder dick. Sie wachsen mit nichts anderem auf als mit Fastfood und Talkshows im Fernsehen.“ Heil bezeichnet diesen beklagenswerten Zustand als eine von „drei großen Ausgrenzungen in unserer Gesellschaft“ – neben der Ausgrenzung älterer Menschen vom Arbeitsmarkt und der Ausgrenzung junger Frauen von der Möglichkeit, Beruf und Familie miteinander zu verbinden.
Mit dieser Ausgrenzung will die SPD endlich Schluss machen.
Dafür gibt die Parteispitze in diesen Wochen alles. Der Generalsekretär schreckt nicht einmal vor dem vollen Körpereinsatz zurück. Es geht schließlich um ein großes Ziel: Die Partei soll nach den harten Schröder-Jahren endlich mit sich selbst versöhnt werden. Sie gibt sich dafür ein neues Grundsatzprogramm, in dem die Welt des 21. Jahrhunderts aus sozialdemokratischer Perspektive beschrieben wird – so wie die Welt also ganz okay wäre, vermutlich aber nie werden wird. Eine Welt, in der der Fortschritt die Menschen nicht mehr bedroht, sondern sie rettet. In der Kriege immer und überall Frieden stiften. In der der moderne Sozialstaat dafür sorgt, dass jeder Mensch, egal, was er leisten kann, frei von Not und Hartz IV lebt. Eine Welt, in der die Kinder nicht dick werden, weil sie Obst und Gemüse essen und keinen Big Mäc.
In der Sprache des SPD-Generalsekretärs klingt das wie eine halbwegs lösbare Aufgabe. „Wir müssen Leitbilder entwickeln, die über die große Koalition hinausreichen“, sagt Hubertus Heil. So gesehen scheint es fast ein Vorteil zu sein, dass die Sozialdemokratie zum ersten Mal in ihrer 144-jährigen Geschichte ein neues Programm schreibt, während sie gleichzeitig regiert.
Dieses neue Grundsatzprogramm soll ein sozialdemokratisches Glaubensbekenntnis sein. Wenn es fertig ist, soll es jedes Mitglied mit gutem Gewissen in sein Parteibuch legen können. Es existiert immerhin schon als Entwurf; mit über 60 Seiten allerdings noch etwas zu dick fürs Parteibuch. Dieser Entwurf soll jetzt von möglichst allen der verbliebenen 560.000 Genossen diskutiert und verbessert werden. An diesem Sonntag in Bremen findet dazu die erste von insgesamt vier Regionalkonferenzen statt. Eingeladen sind Genossen aus den Landesverbänden Hamburg, Niedersachsen, Schleswig-Holstein und Bremen. Sie sollen sich zu Herzen nehmen, was ihnen ihr junger Generalsekretär als politisches Lebensmotto Willy Brandts in Erinnerung ruft: Die Realitäten anerkennen – aber sich nicht mit den Verhältnissen abfinden.
Wie das geht, führt den 800 Genossen in der Messehalle nach der Rede von Hubertus Heil zunächst ihr Parteichef Kurt Beck vor. Beck kann das ganz gut: auf Parteiversammlungen im ganzen Land sozialdemokratische Reden schwingen und in Berlin mit der großen Koalition regieren. „Wir wollen eine Gesellschaft, die durch eine Klammer zusammengehalten wird“, sagt er jetzt. „Eine gerechte und soziale Gesellschaft hat im 21. Jahrhundert genauso ihre Berechtigung wie im 19. und 20. Jahrhundert.“
Kurt Beck lässt sich das nicht ausreden, und so gerät ihm in seiner Rede irgendwie alles zu sozialdemokratischer Politik: Mindestlöhne, wirtschaftlicher Erfolg, ökologische Verantwortung, kostenlose Kindergärten, Rettung der Airbusfertigung in Norddeutschland, der Wiederaufstieg seines 1. FC Kaiserslautern in die Fußball-Bundesliga. Alles eine Frage der richtigen Werte. „Die SPD ist mehr als ein Wahlverein, der nur Mehrheiten erringen will“, behauptet Beck. „Aber wir müssen auch Mehrheiten erringen wollen. Sonst haben wir wunderbare Programme, und die anderen gestalten die Politik.“
Der SPD-Chef sagt immer solche Sätze, die immer stimmen, aber nichts sagen. „Wir wollen auch in Zukunft eine Landwirtschaft“, betont er in Bremen.
„Die Welt ist heute international aufgestellt“, erklärt er und fügt hinzu: „Die SPD ist auch international aufgestellt.“
Schließlich rät er den deutschen Managern, im harten Kampf um internationale Wirtschaftsaufträge von den US-Amerikanern zu lernen. „Sie sind international aufgestellt – aber sie sind auch Amerikaner.“
Becks Sätze sind wie sozialdemokratische Regierungspolitik: Sie wollen zu viel und können zu wenig. Für so etwas haben die Genossen in der Jahren von Gerhard Schröders Kanzlerschaft ein feines Gespür entwickelt. Sie sind dem neuen Parteichef zwar dankbar dafür, dass er sie nicht so abkanzelt, wie es der Gerd immer getan hat, dass Kurt Beck sie endlich einmal frei diskutieren lässt, was sozialdemokratische Politik heute überhaupt noch ausmacht. Trotzdem trauen sie ihrem jetzigen Vorsitzenden auch nicht so richtig über den Weg. „Eine Regierung muss schwierige Entscheidungen treffen, ganz klar“, sagt ein Genosse aus Hannover. „Aber dann müssen wir das auch so offen sagen und dürfen nicht drumherum reden. In unserem alten Parteiprogramm stand als Ziel die 35-Stunden-Woche. Hat irgendeiner hier erlebt, dass die rot-grüne Regierung dafür gekämpft hat?“
Beck und Heil können an diesem Sonntag über sechs Stunden lang erleben, dass das Angebot zur Debatte von der Partei geradezu begierig angenommen wird. So viele Genossen wollen etwas sagen, dass jeder für seine Wortmeldung von der Versammlungsleitung nur zwei Minuten eingeräumt bekommt. So lassen die meisten ihre Kritik am Programm ohne Punkt und Komma auf die Versammlung niederprasseln. Die Partei biete jungen Frauen einfach zu wenig, moniert eine Genossin aus Bremen. Wolle die SPD einen öffentlichen Beschäftigungssektor, der Frauen entlaste? Und wie könne die Partei die Männer endlich zwingen, ihren Part in der Familie zu übernehmen. „Junge Frauen haben einfach keine Lust mehr, sich von grauhaarigen Männern sagen zu lassen, wie sie ihr Leben zu leben haben.“
Das Spektrum der kritischen Anmerkungen ist breit. Die einen wollen den Begriff „demokratischer Sozialismus“ deutlicher im Programm verankert sehen. Die anderen äußern den Verdacht, mit der Idee vom „vorsorgenden Sozialstaat“ solle der „nachsorgende Sozialstaat“ abgeschafft werden. Einige machen auf Widersprüche zwischen dem Programm und der Regierungspolitik aufmerksam. Wie es denn sein könne, dass gut verdienende Ehen im Steuerrecht bevorteilt, aber bei Hartz IV als Bedarfsgemeinschaft bestraft würden, will eine Genossin aus Hamburg wissen.
Beck antwortet den Kritikern mit Kurt-Beck-Sätzen. Dann sagt er, dass jedes Argument notiert worden sei. Die Parteiführung werden sich mit allem ernsthaft auseinandersetzen. Anschließend lässt er sich entschuldigen. Er müsse nach Mainz zum Karneval. Aber er wünsche der Versammlung für den späten Nachmittag noch viel Freude. „Ja, es macht doch auch Freude, über Zukunftsfragen zu diskutieren.“
Als Beck weg ist, kommt Oskar Negt aufs Podium. Der Soziologe aus Hannover sagt, dass ein Parteiprogramm wie eine Fahne sein müsse. Beck habe in seiner Rede zwar alles brav aufgezählt, und der Programmentwurf versammle alle wichtigen Punkte – aber es fehle die Zuspitzung. „Das Programm ist langweilig. Eine Hilfe zum Einschlafen.“
Negt nennt ein Beispiel. Deutschland sei eine der reichsten Gesellschaften der Welt, trotzdem würde hier jedes fünfte Kind in Armut aufwachsen. „Das ist doch ein Skandal“, ruft Negt.
Niemand fragt nach, ob Kurt Beck der richtige Vorsitzende ist, um solche Skandale zu thematisieren.