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Archiv-Artikel

Erfolge, die tödlich sein können

AFGHANISTAN Seit dem Einmarsch in Afghanistan 2001 sind nicht mehr so viele Zivilisten getötet worden wie 2010. US-Befehlshaber General David Petraeus spricht von großen militärischen Fortschritten

Überdurchschnittlich stieg die Zahl der getöteten Kinder – um 21 Prozent

VON THOMAS RUTTIG

2.777 afghanische Zivilisten wurden im Jahr 2010 getötet – mehr als je zuvor seit der US-geführten Militärintervention gegen das Taliban-Regime Ende 2001 und 15 Prozent mehr als 2009. Das geht aus dem neuen Jahresbericht „zum Schutz von Zivilisten in bewaffneten Zivilisten“ hervor, den die Vereinten Nationen sowie die Unabhängige Afghanische Menschenrechtskommission (AIHRC) traditionell gemeinsam herausgeben. Überdurchschnittlich stieg die Zahl der getöteten Kinder – um 21 Prozent.

Das Dokument verweist auch auf die Ursachen der erneuten Gewalteskalation. 2010 sei von „einem Anstieg der Aktivitäten regierungsfreundlicher Kräfte“ – zu denen neben den afghanischen Sicherheitskräften die Schutztruppe Isaf sowie US-Sondereinheiten gehören – „und einer vermehrten Einsatzes improvisierter Sprengsätze und gezielter Morde durch regierungsfeindliche Kräfte“ gekennzeichnet gewesen. Dabei werden den Aufständischen drei Viertel aller zivilen Opfer angelastet. 16 Prozent gehen auf das Konto der afghanischen und der westlichen Truppen; die verbleibenden 9 Prozent waren nicht klar zuzuordnen.

Die Zahl der bei US- und Nato-Luftangriffen getöteten Zivilisten sank gegenüber 2009 um die Hälfte. 2009 hatte aber auch der mit etwa 90 Todesopfern besonders folgenreiche Angriff auf die beiden Tanklaster bei Kundus stattgefunden, an dem auch Deutschland beteiligt war.

Statistik ist eben nicht alles. In der Wahrnehmung in Afghanistan fallen nach wie vor gerade die Opfer westlicher Militäroperationen ins Gewicht. Das zeigen gerade zwei Fälle in der Ostprovinz Kunar. Am 1. März hatte eine US-Hubschraubercrew neun Jungen im Alter zwischen 8 und 14 Jahren beim Holzsammeln im Wald fälschlicherweise für durchziehende Rebellen gehalten und erschossen. Zuvor waren bei viertägigen gemeinsamen Operationen afghanischer und westlicher Soldaten um den 20. Februar, einschließlich Luftangriffen, insgesamt 60 Menschen getötet worden, darunter 20 Frauen und 29 Kinder und Jugendliche. Besonders hatte für böses Blut gesorgt, dass der Befehlshaber aller in Afghanistan eingesetzten Truppen, US-General David Petraeus, in einem anschließenden Treffen mit Präsident Karsai behauptete, Dorfbewohner hätten ihre Kinder verbrannt, um die Zahl ziviler Opfer zu übertreiben und sie den USA anzulasten.

Und nicht alle Morde, die UN und AIHRC den Taliban anlasten, gehen auch wirklich auf ihre Kappe – etwa in der Südprovinz in Kandahar. In der Heimatprovinz von Präsident Hamid Karsai verwenden regierungstreue Einheiten Taliban-ähnliche Methoden, allen voran dessen jüngerer Bruder Ahmad Wali Karsai mit seiner Kandahar Strike Force, einer irregulären Miliz, die zusammen mit CIA-Spezialkräften operiert. Sie bildet das Zentrum eines Netzes aus regulären Polizeieinheiten, sogenannten Stammesmilizen sowie privaten Sicherheitsfirmen, die sich nicht immer voneinander abgrenzen lassen.

Unterdessen bereit sich General Petraeus auf eine Anhörung nächste Woche in Washington vor. Kernaussagen sind bereits vorab in die Medien gelangt. Demnach will der General eine Erfolgsbilanz ziehen: Erfolge in den Taliban-Zentren in Südafghanistan, um Kabul und im Norden, darunter der „Bundeswehr-Provinz“ Kundus – alles dank der 1.600 Einsätze von Spezialeinheiten in den letzten drei Monaten, etwa 18 pro Nacht. Weniger dürfte ihm die Überschrift der Washington Post von Montag gefallen haben: „Zivile US-Offensive unzureichend beim Aufbau der Lokalregierungen“.

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