: Hartz IV wird der Prozess gemacht
Heute entscheidet das Bundessozialgericht darüber, ob es Hartz IV für verfassungsgemäß hält. Seit die Reform in Kraft ist, machen Gerichte Überstunden, um die Klageflut zu bewältigen. Rund 100.000 Menschen erkennen ihren Bescheid nicht an
VON CIGDEM AKYOL
Deutschlands oberste Sozialrichter sollen darüber urteilen, ob 345 Euro pro Person ausreichen, um ein menschenwürdiges Leben in Deutschland zu finanzieren. Heute verhandeln die Richter über sechs Revisionen von Arbeitslosengeld-II-Empfängern gegen das „Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“, wie Hartz IV auch heißt.
Seit dem 1. Januar 2005 in Kraft, ersetzt das Arbeitslosengeld II für viele Arbeitslose die Sozialhilfe. Während Sozialhilfeempfänger aber in besonderen Lebenslagen, etwa bei Krankheit, einen Zuschlag zum Regelsatz bekommen können, ist dies beim Arbeitslosengeld II nicht vorgesehen. Damit wollen sich viele nicht zufrieden geben.
Die Sozialgerichte verzeichnen einen sprunghaften Anstieg der Klagen gegen die Hartz-IV-Reformen. Mehr als 100.000 Menschen ziehen gegen die Arbeitsmarktreform vor Gericht. Allein das Sozialgericht Berlin, dass größte in Deutschland, eröffnete von Januar bis Oktober dieses Jahres rund 9.500 neue Verfahren. Die Sozialgerichte müssen daher Stellen umschichten, was zu Verzögerungen bei anderen Verfahren führt.
Der Vorsitzende Richter des Bundessozialgerichtes, Ulrich Steinwedel, erklärt die Klagewelle mit „der neuen Herangehensweise des Gesetzgebers, welche keine gesicherte Basis für eine Rechtsanwendung gegeben hat“. Es gebe noch einen immensen Klärungsbedarf. Weil es so viele Hartz-IV-Empfänger gäbe, sei auch die Anzahl der Klagen dementsprechend hoch.
In seiner ersten Entscheidung zu den Hartz-IV-Reformen am 7. November hat das Bundessozialgericht die Rechte der Empfänger von Arbeitslosengeld II gestärkt. Ein Arbeitsloser und geschiedener Vater aus Duisburg hatte prozessiert, weil er die Fahrtkosten für seine getrennt lebenden Kinder von seinem Regelsatz in Höhe von 345 Euro aufbringen musste.
Die Kasseler Richter erklärten, es sei verfassungsrechtlich notwendig, getrennten Paaren zusätzliche Leistungen zu gewährleisten, damit diese das Umgangsrecht mit ihren minderjährigen Kindern wahrnehmen können. Weil aber das Gesetz einen Zuschlag zum Regelsatz von monatlich 345 Euro nicht zulasse, müsse in solchen Fällen eine „Bedarfsgemeinschaft auf Zeit“ möglich sein. Danach werden die Kinder für ihre Besuchstage dem Haushalt des Vaters zugerechnet. In einem anderen Fall machte das Gericht klar, dass Hartz-IV-Empfänger nicht zum Umzug in einen anderen Ort gedrängt werden dürften, weil dort die Miete billiger sei.
Der Vorsitzende des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, Werner Hesse, meint, der Regelsatz liege 20 Prozent unter dem eigentlichen Bedarf. Der momentane Regelsatz dränge die Menschen ins soziale Abseits. Vor allem Kinder von Hartz-IV-Empfängern seien davon betroffen. Denn Ausgaben für Bildung würden in der Sozialleistung nicht einkalkuliert werden. „Die soziale Schere geht immer weiter auf“, kritisiert er. Hesse fordert 415 Euro monatlich.