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Archiv-Artikel

Und plötzlich war Krieg

1914 Lange Zeit war die Bedrohung durch den Weltkrieg für die BerlinerInnen weit weg. Das änderte sich jedoch im August vor genau hundert Jahren: Plötzlich wurden die Kämpfe auch in Berlin geführt – fernab der Schlachtfelder. Eine Spurensuche

VON UWE RADA

„Ihr wisst, dass wir diesen Krieg nicht gewollt haben“, beginnt der Pfarrer seine Predigt. Doch dann fährt er fort und will ihn doch, den Krieg: „Die amtlichen Dokumente, die in den letzten Tagen veröffentlicht worden sind, haben klar gezeigt, dass eine Welt von Hassern und Neidern uns klein zu machen sucht. So wird dieser Krieg also nicht um dieses oder jenes Recht geführt […], sondern es ist ein Kampf um die Existenz unseres Volkes, um Sein oder Nichtsein.“

Anja Siebert-Bright legt den Ausdruck aus dem hundert Jahre alten Gemeindeblatt zur Seite. Der Pfarrer, der seine Neuköllner Gemeinde anlässlich des vom Kaiser angeordneten „außerordentlichen Bettags“ am 5. August 1914 auf den Krieg eingeschworen hat, war einer ihrer Vorgänger. „Deutschland müsse sich verteidigen, das war der Tenor der meisten Predigten“, erklärt die Pfarrerin der Martin-Luther-Gemeinde in der Neuköllner Fuldastraße. „Aufrufe zum Frieden hat es so gut wie nicht gegeben.“ Die evangelische Kirche in Berlin und auch die Gemeinde in der Fuldastraße waren nach Beginn des Ersten Weltkriegs am 1. August 1914 Kriegspartei geworden.

Unmittelbarer Alltag

Die Kriegspredigt vom 5. August 1914 hat Ursula Bach ausfindig gemacht. Sie ist die Archivarin der Gemeinde und hat mit Siebert-Bright eine Geschichtswerkstatt zum Ersten Weltkrieg ins Leben gerufen. „Dieser Krieg ist im deutschen Erinnern viel blasser als der Zweite Weltkrieg“, sagt Bach. „Aber er hat ganz unmittelbar auf den Alltag der Neuköllner eingewirkt.“

In ihren Recherchen wertete Bach auch die Gefallenenlisten aus, die im Gemeindeblatt veröffentlicht worden waren. „Alleine in der Fuldastraße war fast jedes Haus betroffen“, sagt sie.

Anders als im Zweiten Weltkrieg war Berlin von 1914 bis 1918 nicht unmittelbar Kriegsschauplatz. Erst in den Hungerwintern 1915/1916 und 1916/1917 und mit den revolutionären Ereignissen 1918 waren die Folgen des Völkerschlachtens auch in der Reichshauptstadt zu spüren. Doch an der „Heimatfront“ stand Berlin im Mittelpunkt des Geschehens. Hier wurden die Propagandaschlachten geschlagen, die Kriegspredigt des Neuköllner Pfarrers war ein Teil davon.

Der Berliner Sängerkrieg

Holger Hübner wartet an der Lindenstraße, wo vor hundert Jahren die Parteizentrale der SPD stand. „Fast 30.000 Quadratmeter groß war der Gebäudekomplex, in dem auch die Redaktion der SPD-Parteizeitung Vorwärts ihren Sitz hatte“, sagt Hübner. Das ist fast fünfmal so groß wie das Willy-Brandt-Haus heute, heißt es auf einer Erinnerungsstele, die an der Stelle steht, wo sich einmal die Lindenstraße 2–4 befand. Vor hundert Jahren war die SPD stärkste Fraktion im Reichstag – und sie war gegen den Krieg. Zumindest so lange, bis er noch nicht begonnen hatte.

Holger Hübner ist Mitglied in der Historischen Kommission der SPD, also Traditionspfleger einer Partei, die im vorigen Jahr ihren 150. Geburtstag gefeiert hat. Also erinnert er daran, dass es im Juli und August 1914 nicht nur Kriegstreiber gab – und auch kein „Augusterlebnis“, jenen Hurrapatriotismus also nicht, von dem es lange hieß, er habe eine ganze Generation geprägt.

Hübner hält den Aufruf zur Antikriegsdemonstration in der Hand, der im Vorwärts erschienen ist: „Parteigenossen, wir fordern Euch auf, sofort in Massenversammlungen den unerschütterlichen Friedenswillen des klassenbewussten Proletariats zum Ausdruck zu bringen“, heißt es in der Ausgabe des Vorwärts vom 25. Juli 1914. „Wir wollen keinen Krieg. Hoch die internationale Völkerverbrüderung.“ Der Adressat des Aufrufs war freilich nicht der deutsche Kaiser, sondern der „österreichische Imperialismus“.

„Am 28. Juli sollte es an fast dreißig Orten Massendemonstrationen gegen den Krieg geben“, erinnert Hübner. Doch da hatte sich die Lage bereits zugespitzt. Zwischen dem Aufruf am 25. Juli und der geplanten Demonstration drei Tage später hatte Österreich-Ungarn Serbien den Krieg erklärt – und Berlins Polizeichef Traugott von Jagow ließ die Protestzüge verbieten.

„Deshalb hielten die Genossen zahlreiche voneinander getrennte Versammlungen ab“, sagt Hübner und erklärt, wie das Demoverbot schließlich unterlaufen wurde: „Nach dem Ende der Versammlungen sind die Arbeiter in die Innenstadt geströmt.“

Dieser 28. Juli, ein Dienstag, war der Tag, an dem es zu den ersten Auseinandersetzungen auf den Berliner Straßen zwischen Kriegsgegnern und der Polizei kam, schreibt Sven Felix Kellerhoff in seinem Buch „Heimatfront“. Aber auch Kriegsgegner und Befürworter waren Unter den Linden aufeinandergetroffen: „Auf den Trottoirs des Boulevards hatten sich unzählige Bürger versammelt und schmetterten Lieder wie ‚Die Wacht am Rhein‘ oder ‚Deutschland, Deutschland, über alles‘. […] Auf dem Mittelstreifen und den beiden Fahrbahnen dagegen standen SPD-Anhänger, die mit der Arbeiter-Marseillaise und anderen Liedern der Arbeiterbewegung dagegenhielten.“ Diese Konfrontation ist als der Berliner Sängerkrieg in die Annalen der Stadt eingegangen.

Nur noch Deutsche

Wann begann der Erste Weltkrieg in Berlin? Mit den tödlichen Schüssen auf Österreichs Thronfolger Franz Ferdinand in Sarajevo am 28. Juni 1914? Mit dem Blankoscheck, den der deutsche Kaiser Wilhelm II. Österreich-Ungarn am 5. Juli ausstellte und mit dem er das Heft des Handels an Wien übergab?

Oder mit dem österreichischen Ultimatum an Serbien am 23. Juli, nach dem es kaum mehr ein Zurück gab? Kaum war die Note Wiens an Belgrad bekannt geworden, hatten sich zahlreiche Menschen in der Berliner Innenstadt getroffen, notierte der Chefredakteur des liberalen Tageblatts, Theodor Wolff, der eine „unerwartete, eigentümliche Stimmung“ beobachtete: „Züge von mehreren Tausend Personen ziehen zum Schloss, zu den Botschaften usw., singend und Hurra schreiend.“ Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg sprach am nächsten Tag von „halbwüchsigen Burschen, die sich der Gelegenheit zu Radau und Aufregung freuen“.

Für den Kaiser begann der Krieg am 1. August – und der Ort, an dem er begann, wird gerade wiederaufgebaut. Um 18.30 Uhr trat Wilhelm II. auf den Balkon am Schlossportal IV und rief der jubelnden Menge zu: „Ich kenne keine Parteien und auch keine Konfessionen mehr; wir sind heute alle deutsche Brüder und nur noch deutsche Brüder.“

Zu diesem Zeitpunkt hatte es sich schon herumgesprochen: Nach dem Ultimatum Österreichs an Serbien und der folgenden Kriegserklärung Wiens an Belgrad hatte am 1. August das Deutsche Reich Russland den Krieg erklärt und die Generalmobilmachung angeordnet. Am nächsten Tag würde Deutschland Luxemburg besetzen und am Tag darauf in das neutrale Belgien einmarschieren. Nicht mehr nur gegen Russland ging es nun, sondern auch gegen Frankreich. Ein Zweifrontenkrieg.

„Der Ernstfall war also eingetreten“, sagt SPDler Holger Hübner. Auch für die Sozialdemokraten wurde es nun ernst. Seit dem 1. August herrschte Kriegsrecht. Was das bedeutete, erklärte der Vorwärts seinen Lesern so: „Parteigenossen! Der Kriegszustand ist erklärt. Die nächste Stunde schon kann den Ausbruch des Weltkriegs bringen. Die strengsten Vorschriften des Kriegsrechts treffen mit furchtbarer Schärfe die Arbeiterbewegung. Unbesonnenheiten, nutzlose und falsch verstandene Opfer schaden in diesem Augenblick nicht nur dem Einzelnen, sondern unserer Sache.“

Die SPD macht mit

Schon am 1. August hatte der Vorstand der SPD hinter verschlossenen Türen in der Lindenstraße 3 getagt. „Der Druck war immens“, sagt Hübner. „Viele Sozialdemokraten wollten sich nicht der Vaterlandsverteidigung verweigern.“ Zumal, das räumt er ein, das russische Zarenreich, das in Ostpreußen einmarschiert war, auch unter deutschen Linken verhasst war.

Hugo Haase gehörte nicht zu den „vielen“ Sozialdemokraten. Der in Allenstein geborene Rechtsanwalt war in der Doppelspitze der SPD und repräsentierte den linken Flügel der Sozialdemokraten, während Friedrich Ebert für die Parteirechte stand.

Als Vertreter der Parteilinken war Haase am 29. Juli nach Brüssel gereist, um sich mit Jean Jaurès zu treffen, dem Führer der französischen Sozialisten. Doch das internationale Antikriegsbündnis, das beide anstrebten, kam nicht zustande. Jaurès wurde zwei Tage später von einem Nationalisten ermordet. „Das war ein großer Schock“, sagt Holger Hübner. „Danach ist Frankreich als Nation zusammengerückt.“

Und Deutschland ebenso. Als am 4. August der Reichstag zu seiner ersten Sitzung im Krieg zusammenkam, war Haase immer noch gegen den Krieg, die Fraktionsmehrheit der SPD aber dafür. „Haase hat sich der Fraktionsdisziplin gefügt und nach der Sitzung die Zustimmung zu den Kriegskrediten verkündet.“ Seine Worte sind Legende geworden: „Wir lassen in der Stunde der Gefahr das eigene Vaterland nicht im Stich.“

So wurde die SPD von einer Partei der Kriegsgegner zu einer Partei der Kriegsbefürworter. „Das ist das, was hängen geblieben ist“, sagt Hübner. „Dass die meisten Parteimitglieder weiterhin skeptisch blieben, nimmt heute keiner mehr wahr.“

Gegen alles Fremde

Wenn der Krieg beginnt, werden alle, die ihn nicht wollen, früher oder später zu Verrätern, zu Feinden im Innern. Was aber ist mit denen, die noch vor dem Beginn des Krieges friedlich mit ihren Nachbarn zusammengelebt hatten und plötzlich zu „äußeren“ Feinden gestempelt wurden? Wie schnell sich die Reihen schließen können, konnte James W. Gerard beobachten, der im August 1914 US-Botschafter in Berlin war.

Kaum hatte Großbritannien nach dem deutschen Einmarsch in Belgien dem Deutschen Reich den Krieg erklärt, kam es vor der britischen Botschaft zu Tumulten, zu deren Zeuge Gerard wurde: „Ich ging aus zu einem Rundgang durch Berlin und wurde bald verwickelt in die große Menschenansammlung gegenüber der britischen Botschaft an der Wilhelmstraße. Die Menge warf Steine und war damit beschäftigt, sämtliche Fenster der Botschaft zu zertrümmern.“

Auch die ersten Propagandaschlachten hat Gerard bei dieser Gelegenheit erleben dürfen. „Nachträglich klagten die Deutschen, Leute der Botschaft hätten die Menge wütend gemacht, indem sie Pfennige warfen. Ich habe nichts derartiges gesehen.“

Dass ein Land wie Großbritannien, obwohl nicht mit Belgien verbündet, es wagte, gegen Deutschland in den Krieg zu ziehen, empfanden viele Berliner als unerhört. Aber es löste auch Irritationen aus. Würden die Soldaten wirklich, wie es an den Zügen in Richtung Front gestanden hatte, Weihnachten wieder zu Hause sein?

Unsicherheit machte sich breit, die bald umschlug in Misstrauen, schreibt Kellerhoff in „Heimatfront“: „Vor dem Hotel Adlon unweit der britischen Botschaft standen erregte Berliner, die nach britisch aussehenden Personen Ausschau hielten.“ Es begann die Zeit der „Hetzjagden auf vermeintliche Spione“, so Kellerhoff. Nicht nur in Berlin, auch in Paris und anderen Hauptstädten. Zwischen Freund und Feind gab es nun nichts mehr.

Der Krieg kommt zurück

Wann hat er begonnen, der Krieg in Berlin – und wann endete er? Für die Kirche, sagt Ursula Bach, die Archivarin der Martin-Luther-Gemeinde in Neukölln, ging er, trotz der zunehmenden Kriegsmüdigkeit der Bevölkerung, immer weiter. Bei ihren Recherchen hat sie auch einige Predigten aus dem letzten Kriegsjahr gefunden, „Durchhaltepredigten“, wie sie sagt. „Die Frauen wurden von der Kanzel herab aufgefordert, keine Jammerbriefe an die Front zu schicken.“

Doch da war es schon zu spät. Während die Arbeiter als Soldaten im Schützengraben verheizt wurde, entluden sich Wut und Not vieler Frauen in Berlin in Hungerrevolten. „Hugo Haase, der Kriegsgegner, der am 4. August 1914 die Zustimmung seiner Partei zu den Kriegskrediten verkünden musste, hat noch während des Krieges die Unabhängige Sozialdemokratische Partei, die USPD gegründet“, sagt Holger Hübner. „Deutschland hat den Krieg verloren, und die Arbeiterbewegung war gespalten. Die Folgen sehen wir bis heute.“