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Archiv-Artikel

Wir sind KünstlerInnen, also sind wir

Die Kultur kann den Menschen retten, sagt Adrienne Goehler. Und verspricht: In einer kreativen Gesellschaft, ausgestattet mit einem Grundeinkommen, werden BürgerInnen wieder zu mündigen Individuen. Denn bislang sind sie nach ihrem eigenen Vermögen nicht gefragt worden

Sie sind schon unter uns, und sie sind zahlreich. Vielleicht sind Sie selbst eineR, wissen es nur noch nicht: Sie sind gut ausgebildet, vielseitig interessiert, haben meistens mehrere Jobs gleichzeitig, sind an Projekten beteiligt. Sie verdienen relativ wenig, erwirtschaften aber viel. Sie sind Teil der kreativen Klasse. Und damit Teil einer Lösung für die gesellschaftlichen Probleme: Die Kulturgesellschaft. Die Publizistin und Psychologin Adrienne Goehler erzählte Dienstagabend in der Düsseldorfer Kunsthalle von ihrer Version einer neuen Avantgarde. Im Mittelpunkt ihres Buches „Verflüssigungen: Wege und Umwege des Sozialstaates“ stehen, natürlich: Die KünstlerInnen.

Denn Kunst und Kultur sind das Lebenselixier von Goehler. Goehler war die erste Abgeordnete der Hamburger GAL-Frauenfraktion, Präsidentin der dortigen Hochschule für Bildende Künste und in Berlin Senatorin für Wissenschaft und Kunst. So erfolgreich ihr Gang durch die Hierarchien, so abgeschreckt ist Goehler von jeder Struktur. Sie hasst Paragrafen, Vorgaben und bürokratischen Aufwand, die Großlösungen der Politik, sie findet es furchtbar, dass Geschichte und Musik einzeln unterricht werden, Menschen Zuständigkeiten zugewiesen werden. Denn ein Zustand ist statisch, und die ständig gestikulierende Goehler möchte Bewegung, eben: Verflüssigungen.

Die bislang postulierte Arbeitsgesellschaft existiert nicht mehr, so ihre zentrale These. „Gerade NRW hat täglich vor Augen, wie wenig tragfähig die alten Arbeitsplätze sind.“ Sie waren gebunden an einen meist vollbeschäftigten männlichen Ernährer, der inzwischen zur Ausnahme geworden ist: Nur 13 Prozent aller Deutschen arbeiten noch in einem traditionellen nine-to-five Job. Trotzdem hält die Politik, der Diskurs, am verwesenden Ideal fest. „Inzwischen ist das cogito der Lohngesellschaft: Ich bin bezahlt, also bin ich“, sagt Goehler. Die überwiegende Masse hat aber faktisch eine gebrochene Erwerbsbiografie, Arbeitslose werden als Problemfälle behandelt. Das lässt sie „chronisch verbittern“. Ein Zeichen für dieses Zurückgezogenheit: Niedrige Wahlbeteiligungen. Sie liegt mit durchschnittlich knapp fünfzig Prozent unter der geforderten Auslastung von Theatern.

Goehler will keine Revolution, keinen neuen Menschen, sie glaubt daran, dass alle Fähigkeiten und Talente schon vorhanden sind. Und dass eine auf Kultur basierte Gesellschaft sich geschlechtergerechter verhalten würde. Es arbeiten immerhin doppelt so viele Frauen wie Männer in der Gruppe der culture-creatives. Was aber hält die Kulturgesellschaft davon ab, dann doch wieder das Geschlecht zu wechseln, wenn es um Macht und Posten geht? „Sie setzt mehr auf Können als auf Boys-Network. Sie verzichtet auf die Einteilung zwischen eigentlicher und uneigentlicher Arbeit.“

Voraussetzung für eine frei, kreative Gesellschaft ist für Goehler das Grundeinkommen. Dieser bedingungslose Lohn macht es erst möglich, eigene Fähigkeiten zu entwickeln, kreativ zu werden. Dass viele Menschen nicht befähigt sind, eigenverantwortlich zu handeln, will sie nicht gelten lassen. „Diese Menschen gibt es jetzt auch schon. Und wenn sie bei ihren Lebensbedingungen mitreden dürfen, werden auch sie aktiver“, sagt sie.

Aber wie gelangen die Menschen in diese Gesellschaft? „Kunst darf nicht nur ein bisschen subventioniert werden, sondern sie muss als treibende Kraft gesehen werden.“ Viele kleine Projekte sollen den Weg dahin ebnen, plurale Erfindungen möglich sein. Goehler initiiert gerade einen neuen Service in den Arbeitsagenturen: Joblose sollen sich für freie Projekte bewerben können, eine interdisziplinäre Jury über Fördermittel entscheiden. „Ich bohre“, sagt Adrienne Goehler, „den Vorschlaghammer habe ich noch nicht gefunden.“ Der wäre ihr wahrscheinlich auch zu wenig flüssig. ANNIKA JOERES