: Risse im Familienbild
Vater und Mutter soll Hauke B. umgebracht haben. Doch fehlen noch immer die Leichen. Nach einem Jahr Beweisaufnahme vor dem Landgericht Verden wird heute die Staatsanwaltschaft auf Höchststrafe plädieren – und der Verteidigung bleibt kaum eine andere Wahl, als Freispruch zu verlangen
aus VerdenBenno Schirrmeister
Ist Herr B. verrückt? Das würde vieles erklären, vieles vereinfachen, vielleicht. Auf jeden Fall würde sich das auswirken auf die Frage nach seiner Schuld. Oder Unschuld. Denn noch ist Hauke B. nicht verurteilt. Und wie die Dinge liegen, wird die Verteidigung Freispruch beantragen müssen.
Heute aber hat die Staatsanwaltschaft das Wort. Und die kann kaum anders, als Heimtücke und besondere Grausamkeit als Tatmerkmale zu benennen. Für eine Tat, von der noch immer nicht gesagt werden kann, wie sie sich zugetragen hat. Ja nicht einmal, dass: Auch nach fast drei Jahren gibt es keinen Hinweis darauf, was im August 2004 in dem Örtchen Nordwohlde am Rande der Wildeshauser Geest geschehen ist. „Und andernorts“, wie es in der am 4. März vorgetragenen Anklageschrift hieß.
Verkrüppelte Blätter am Rhododendron, fleckiger Rasen, der Liguster greift mit gaksigen Trieben durch den Jägerzaun. Der Bungalow steht leer, drei Jahre bald, unberührt die weiße Wand und die Glasbausteine: Der Weg von der Hanglabe zu Wehrkirchlein und Backsteingehöften im Ortskern führt schon vorbei an Pferdekoppeln. 1971 hat Familie B. hier ihr Eigenheim gebaut. Hauke war da 12 Jahre alt, die Schwester ein Kleinkind. Familienidyll.
„Wie war es schön damals“, hat Vater Hajo seinem Sohn im Sommer 2002 geschrieben. Nur „irgendwann“ – die vorsitzende Richterin liest den Brief ohne besondere Betonung, aber dennoch schwingt die väterliche Bitternis für einen Moment im großen Saal des Verdener Landgerichts – „begann eine gewisse Eintrübung des Vertrauens“. Es folgt eine Aufzählung enttäuschter Erwartungen. Und ein Friedensangebot: „Wollen wir es noch einmal versuchen?“
Zwei Jahre später sind Mutter Vera und Vater Hajo verschwunden. Und nichts ist wahrscheinlicher, als dass sie am Sonntag, den 22. August 2004, nach 20 und vor 22 Uhr aus ihrem Haus verschleppt und ermordet wurden. Dass er nach Dezember 2003 bei ihnen gewesen ist, streitet Hauke B. weiterhin ab, trotz einer frischen DNA-Spur am Weinglas auf dem Tisch. Mittlerweile räumt aber selbst er ein, dass „etwas Schlimmes passiert sein“ müsse.
Anfangs hatte er noch davon gesprochen, dass seine 74-jährigen Eltern spontan zu einer Fernreise aufgebrochen sein könnten. „Irgendetwas“, raunt Hauke B. nun, in der U-Haft, dem Besucher zu, habe sich da „angebahnt“, das Alkoholproblem, einiges habe sich ungut entwickelt, aber was, das habe er aus der Entfernung nicht richtig mitverfolgen können. Wichtig sei jetzt aber, dass die Presse Dampf macht wegen des Laptops, das sei dringend. Und ärgerlich: Erst hatte er den Klapp-Computer benutzen dürfen, dann hat das Gericht die Erlaubnis entzogen.
Jetzt will Herr B. erstmal den Personalausweis sehen. Gast und Wachmann müssen also raus, an die Pforte, wo der Pass liegt. Der Schlüsselbund klirrt erneut, die Tür geht, der Uniformierte händigt dem Häftling das Dokument aus, der es kontrolliert, man solle das nicht falsch verstehen, aber er habe halt „so viele Filzläuse“. Mit Filzläusen meint B. Mitinsassen, die der Polizei über angebliche Zellengespräche berichtet haben. Die hätten sich angehört, wie Pläne für ein Verbrechen: K.O.-Tropfen, Häcksler und Schweinemastbetriebe kehren in den Aussagen wieder. Aber vor Gericht bleibt nur einer dieser Zeugen seiner Darstellung treu – und der ist verurteilt wegen schweren Betrugs. Überhaupt, doziert B., einen konkreten Tatvorwurf habe man ihm bislang nicht eröffnet. Und auch aus anderen Gründen hat er sich schon an Menschenrechtsgruppen und Abgeordnete gewandt, mit Briefen, er schreibt viele Briefe, mit Kuli, steile zackige Buchstaben, mal gedruckt, mal verbundene Schreibschrift, und immer wieder durchnummerierte Aufzählungen.
Auch jetzt hat er ein Blatt vor sich liegen, mit aktuellen Problemen. Eine Mängelliste, er liest sie vor, blickt auf, zählt an den Fingern mit: „Erstens“, der Daumen, das ist die Sache mit den Betten, die zu hart seien, Rückenbeschwerden, „viele hier haben ständig Rückenschmerzen. Das geht schon mal nicht“, sagt er, die Stimme klingt leise und streng. „Dann“, der Zeigefinger, „die Sportgeräte: Nur das Personal hat Zugang zu den Sportgeräten“, was ein Unding ist. „Und dann“, und das ist wieder der Daumen, das fehlende Tageslicht, zu kleine Fenster, die falschen Ausgangszeiten, alles Schikanen: Eine Art Beugehaft sei das hier, „natürlich bin ich vorverurteilt ohne Ende“. Seine Schwester? Doch, das „Verhältnis zu Meike“ sei „immer gut“ gewesen. Mit ihr ausgesprochen habe er sich noch nicht, und vorher will er dazu nichts sagen. Sagt dann aber doch, „dass sie in ihrer Situation gar nicht anders handeln konnte.“ Was das jetzt heißen soll? Nein, dazu nichts weiter.
Meike, die Schwester. „Die Tochter der Opfer“, insistiert Meike S., „die Tochter“. Im Gerichtssaal sitzt sie Hauke gegenüber, das ist der Platz der Nebenklägerin, und das kann sie nur sein, weil sie Hauke für schuldig hält. NebenklägerInnen nutzen oft die Presse, um öffentlich Stimmung zu schüren. Meike S. macht das nicht. „Nein“, sagt sie, schüttelt den Kopf, sie wolle nichts erzählen, „jetzt nicht“, ein schiefes Lächeln. „Vielleicht später. Wenn das alles vorbei ist“.
Aber wird das je vorbei sein? Das Verfahren gestaltet sich zäh. Seit Eröffnung ist fast ein Jahr vergangen, und auch das Urteil wird den Verbleib der Eltern nicht klären. Suchaktionen mit Leichenspürhunden, Hubschrauber- und Tauchereinsätze, Interpol-Anfragen: Alles ergebnislos. Das öffentliche Aufsehen, das die Verhandlung anfangs noch erregt hat, ist längst versickert: Was gäbe es auch groß zu schreiben über Zeugen die von der Polizei zu intensiv instruiert wurden oder andere, deren Erinnerungen so blass bleiben, wie weißer Tee? Bliebe noch der Angeklagte, der sich immer wieder in herzlich belanglose Details verbeißt – und zugleich Strategien seiner Verteidiger fleißig durchkreuzt: Die hätten Hauke B. gern begutachtet gesehen. Aber Hauke B. lässt sich nicht begutachten. Dem vom Gericht bestellten Psychiater bleibt nur die Fremd-Anamnese, gestützt auf gemachte Aussagen, dokumentierte Äußerungen und auf die Außensicht, und das reicht, um „eine Störung“ zu diagnostizieren. Aber deren Vorliegen heißt noch lange nicht, dass Herr B.auch wirklich gestört ist.
Nein, Meike S. zeichnet den Bruder nicht schwarz. Gewalttätig sei Hauke nicht gewesen sagt sie auf Frage der Kammer, „das nie“. Nur „bei Rangeleien“ habe er oft „die eigene Kraft nicht einschätzen können“. Und sogar noch als Onkel, der mit seinem Neffen spielt. Aber ein denkbarer Tathergang ist das freilich nicht: Von einem außer Kontrolle geratenen Zank wäre ganz etwas anderes zurück geblieben, als eine diffuse Blutspur des Vaters.
Meike S. hatte am 30. August ihren Bruder in Meppen besucht. Dort saß Hauke B. im Gefängnis wegen Betrügereien, wieder einmal, verlegt aus Wilhelmshaven, und Oldenburg und Uelzen kennt er auch schon von innen. Er hatte Hafturlaub gehabt, vom 20. bis 27., Freitag bis Freitag. Zurückgekehrt war er mit zwei Tagen Verspätung – ohne das zu erklären. Als Meike S. ihn vom Verschwinden der Eltern unterrichtet, reagiert Hauke kaum. Ein Achselzucken vielleicht. Sie formuliert ihre Sorge. Hauke nennt das eine Möglichkeit. Sie wirft ihm vor: Du hast etwas damit zu tun. Er antwortet: Das sei ihre Ansicht. Seither haben die Geschwister nicht mehr miteinander gesprochen. Und gegen Hauke B. hat die Staatsanwaltschaft Verden ermittelt, als „einzige Person, gegen die sich ein konkreter Tatverdacht ergeben hat.“
Fehlendes Alibi, Präsenz am Tatort – und ein Motiv: Einen Monat vor ihrem Verschwinden hatten die Eltern die Rückübertragung ihrer Miethäuser in Stade durchgesetzt. Die hatten sie Hauke zwei Jahre zuvor überschrieben. Sie zurück zu holen das scheint der Versuch gewesen zu sein, den viel älteren Streit mit dem Sohn zu beenden, ein für allemal. Aber wahrscheinlich waren die Immobilien für Hauke nur ein Aufhänger gewesen, immer schon, damit sich etwas viel tiefer liegendes aussprechen kann: Ein wuchernder Hass.
Denn bezüglich der Häusern gibt es einen umfangreichen Briefwechsel. Ja, es geht in den Schreiben des Sohns an seine Eltern immer wieder auch darum, dass irgendetwas wohl getan und repariert werden müsse. Aber konkrete Worte findet Hauke B. dann doch nur für seinen Abscheu und seine Verachtung: „Renitent senil“, nennt er die Eltern. Fleht um „einen tödlichen Blitz, wenn ich so werde wie Hajo“. Seitenweise Galle. Monatlich, wöchentlich, jahrelang. „Gott müsste Euch den Lebensberechtigungsschein entziehen“, schreibt Hauke B. seinen Eltern schon 1996. Zu Weihnachten.
Als die Richterinnen die Korrespondenz zu Ende verlesen haben, herrscht, einen Moment, nachdenkliche Stille im Gerichtssaal. Und dann legt die Vorsitzende eine Pause fest.
Mannshoch sind die Hecken bei fast allen Häusern in der Straße: Hier draußen jedenfalls ist Nordwohlde keine Dorfgemeinschaft. Man grüßt sich, wenn man sich sieht, und man sieht sich nicht oft. Man pflegt das Eigene und umzäunt’s. Und drinnen sitzt die Familie: Auf die Ausbrüche des Sohnes hat, fast immer, die Mutter geantwortet. Hat vermittelt, hat die Auswüchse zurückgeschnitten, und dafür geworben, doch alles mit Ruhe noch einmal von vorne anzugehen. Mit neuem Vertrauen. Sich zusammen setzen, daheim, hieß die Therapie, geborgen durch die Hecke und geschützt von der Wand, der sauber gekälkten aus Ziegeln. Und Risse im Fundament sind von außen nicht zu ahnen.