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Archiv-Artikel

Ich, die Auserwählte

Viele Eltern halten brutale PC-Spiele für jugendgefährdend. Aber ist es schlimm, wenn der eigene Sohn leidenschaftlich gerne am Computer tötet? Eine Mutter ist in die virtuelle Welt der Rollenspiele eingetaucht – und war sofort fasziniert

VON CORNELIA KURTH

Bis vor kurzem hat mich die Frage: „Und, was ist so Neues in deinem Leben passiert?“, immer ein wenig in Verlegenheit gebracht. Es gibt nicht viel Sensationelles zu erzählen, wenn man in einem beschaulichen alten Städtchen lebt. Aber nun, wo alles anders ist, bin ich erst recht um Worte verlegen: „Ähm, also – ich spiele ein Computerspiel …“ Seit so vielen Monaten.

Das Spiel heißt „Gothic“, und eigentlich ist es, in den Dimensionen der PC-Welt betrachtet, schon uralt, eine deutsche Produktion aus dem Jahre 2001. Ein eigenartig sympathischer Junge in dunklem T-Shirt, metallische Ketten um Hals und Hüfte geschlungen, erzählte mir auf einem Fest davon, das heißt, eigentlich nicht mir, sondern meinem 13-jährigen Sohn, der mit brennender Aufmerksamkeit zuhörte. Ich war eher abgeschreckt von der Düsterkeit seiner Beschreibungen einer mit rauen Gesellen bevölkerten, mittelalterlichen Welt, in der ein „namenloser Held“ als Sträfling in eine Art Gefängniskolonie geworfen wird, ein Tal, aus dem niemand mehr entweichen kann, weil die „magische Barriere“ jedes Entkommen verhindert. Und doch zog mich wenig später irgendetwas hin zur „Spielepyramide“ in einem Kaufhaus, wo ich genau dieses Spiel für lächerliche 5 Euro angeboten sah. Ich nahm es, kaufte es, legte es in der heimlichen Stille der Nacht in meinen Computer ein und seitdem …

Kann man jemandem die Liebe beschreiben, der noch nie geliebt hat? Jemandem, der höchstens mal das Kartenspiel „Solitär“ oder die „Moorhuhn“-Jagd am PC spielte, begreiflich machen, dass man ganze Nächte hindurch abtaucht in ein melancholisches, gefährliches Land der Fantasie? Hatte ich nicht selbst, wie alle anderen Elternteile aus meiner Bekanntschaft, die oft fanatische Spielsucht von Kindern und Jugendlichen immer ziemlich ratlos zur Kenntnis genommen und alles daran gesetzt, dass mein eigenes Kind solcher sinnlosen Sucht möglichst nicht verfällt?

Plötzlich war ich Kind

Plötzlich aber war ich selbst wieder Kind, eines, das in Büchern mit wild-romantischen Bildern blättert, die wie ein geöffnetes Tor sind, durch das man nicht hindurchschreiten kann, wie sehr man es auch wünschen (und gleichzeitig fürchten) mag.

Am Bildschirm aber bedarf es nur eines Tastendrucks, und schon bewegt sich der Abenteurer vorwärts, hinein in eine weite Landschaft, die aus Tolkiens Mittelerde stammen könnte. Eine zugleich epische und dezente Begleitmusik spielt auf, und die Geschichte beginnt, das alte und immer wieder neue Märchen vom Auserwählten, der, nackt und bloß, noch nichts von seinem Schicksal weiß, das ihn mit vielen großen und kleinen Proben herausfordert, zum Retter der (Gothic-)Welt zu werden.

Die meisten modernen PC-Rollenspiele (und natürlich erst recht die „Egoshooter) setzen ganz auf unmittelbare Identifikation mit der Hauptfigur, indem sie das Geschehen aus der Ichperspektive zeigen. Gothic-Spieler aber sehen die Gestalt ihres „namenlosen Helden“ von hinten aus der Verfolgerperspektive, und nur manchmal blickt man in sein etwas derbes, aber doch angenehm offenes Gesicht. Möglicherweise liegt es genau an diesem Blickwinkel, dass auch erwachsene Frauen wie ich (30-Jährige gelten schon als „Oldies“, und „zockende“ Frauen in meinem Alter sind eine Seltenheit) der Faszination dieses Spiels erliegen können.

Zwar dauert es auch bei mir nicht lange, und „ich“ wandere durch das „alte Lager“ rund um eine schwer bewachte Burg, „ich“ bin es, die mit den armen „Buddlern“ der Erzmine spricht, mit Haudegen Diego von den „Schatten“, der bald ein väterlicher Freund wird, oder mit dem coolen Lester aus dem noch zu entdeckenden „Sumpflager“, wo Templer und Novizen Sumpfkraut (!) rauchen und darauf warten, dass der geheimnisvolle „Schläfer“ erwacht.

Und doch bleibt, bei aller Hingerissenheit durch eine immer komplexer werdende Story, die nötige Distanz, um sich vielleicht desto stärker der Gefühle des eigenen spielenden Ichs bewusst zu werden und über sich selbst zu staunen. Dass es möglich ist, so heilfroh glücklich zu sein, wenn der zunächst waffenlose Held nach dem beinahe tödlichen Faustkampf gegen eines der Urviecher aus dem Wald ein „rostiges Schwert“ findet, das er beim nächsten Kampf kraftvoll aus der Scheide zieht.

Erstaunlich, dass man so triumphieren kann, wenn man anfangs unbesiegbare „Orkhunde“ später mit der „Blutscheide“ niedermacht und dabei ironisch anmerkt: „Ein Mistvieh weniger!“ Dass das Herz so klopfen kann im Schläfertempel, wenn man verschlossene Tore öffnet und weiß, dass „fanatische Templer“ einen davon abhalten wollen, das Geheimnis der magischen Barriere zu entschlüsseln.

Ich könnte auch metzeln

Andererseits (und auch durch diese Möglichkeit erwarb „Gothic“ sich seinen Kultstatus) entwickelt sich eine große Fürsorglichkeit für den Helden, mit dem ich so untrennbar verbunden bin wie ein „Herr der Ringe“-Leser mit dem Hobbit Frodo, dessen Entwicklung ja – anders, als es in einem Roman möglich ist – entscheidend in meiner Hand liegt. Ich könnte mich wie ein Werwolf durch das „Minental“ bewegen und Menschen, Magier, Orks zu meinem Vorteil niedermetzeln, wie es vor allem die „Kiddies“ mit großem Vergnügen machen, ohne zunächst zu merken – das sehe ich an den vielen Gesprächen mit meinem Sohn und seinen Freunden –, wie sie die Dimension des Spiels entscheidend verkürzen. Ihr Triumph besteht darin, stärker zu sein als alle anderen.

Ich aber, und so geht es den meisten „Gothic“-Spielern, ich liebe es, meinen Helden moralisch halbwegs unbeschadet durch die Spielwelt zu führen. Es ist eine ganz besondere Art von Hochgefühl, der Verführung standzuhalten, eine bessere Waffe nicht etwa durch „Umhauen“ eines arglosen Gegenübers zu ergattern, sondern zu warten, bis ich sie mir verdient habe, oder einen besiegten Gegner nicht zu töten, obwohl ich dadurch auf die so wichtigen „Erfahrungspunkte“ verzichte. Ich denke dann an Zauberer Gandalf und wie er zu Frodo sagt: „Viele, die leben, verdienen den Tod. Und manche, die sterben, verdienen zu leben. Kannst du ihnen das Leben zurückgeben?“

Seit Erscheinen bis heute tauschen sich die Spieler im Internetnetforum „WorldofGothic“ in manchmal geradezu philosophischen Diskussionen darüber aus, auf welche Weise der Held sich zwischen „Gut“ und „Böse“ bewegen sollte, damit die Identifikation mit seinen Handlungen möglichst vollkommen gelingt. Längst gibt es ein „Gothic 2“, wo sich die Rahmengeschichte des Krieges zwischen Menschen, Orks und undurchschaubar wirkenden Magiern fortsetzt, und im Internetforum worldofgothic.de tobt momentan eine erbitterte Auseinandersetzung um die Frage, ob das gerade erschienene überdimensionale „Gothic 3“ nicht seine „Seele“ an den Mainstream verloren habe.

Mit „Gothic 1“ aber verbinden alle Diskussionsteilnehmer ein beinahe unglaublich sentimentales Gefühl: Diese zur Heimat gewordene Landschaft mit dem hohen Himmel, durch den die Blitze der „magischen Barriere“ zucken, dieses unvergessliche Mitgefühl für den so tapfer und humorvoll seine Bestimmung erfüllenden Helden, diese trockenen Dialoge – viele kennen sie alle auswendig –, dieses „Gothic-Feeling“.

Irgendwann erlaubte ich auch meinem Sohn, das Spiel zu spielen, und selten vorher habe ich mich so intensiv mit ihm unterhalten über Dinge, an denen wir gleichermaßen mit Leib und Seele interessiert sind. „Vielleicht spielt jeder dieses Spiel so, dass er ein anderer ist als im wirklichen Leben“, meint er, wenn ich ihn zum Beispiel frage, warum er die Orks auch dann tötet, wenn er doch die „Standarte der Freundschaft“ trägt. „Vielleicht könnte man dieses Spiel so spielen, als ob die wirkliche Welt dadurch eine bessere würde“, sage ich. Und er: „Na gut, aber Mitleid mit den Orks, das geht nun wirklich zu weit!“

„Was ist Neues in deinem Leben passiert?“ Nun – ich habe meinen PC, der technisch gesehen immer ein Buch mit sieben Siegeln für mich gewesen war, eigenhändig aufgeschraubt und – vor wenigen Wochen wusste ich noch nicht mal, das es so was gibt – eine neue Grafikkarte und einen weiteren Speicherriegel eingesetzt.

„Gothic 3“ mit seiner umwerfenden Grafik ist nicht für Computer wie meinen konzipiert, auf denen überwiegend nur geschrieben wird. Aber es ruft! Das Abenteuer geht weiter …