Wider den Fingerzeig

Die Leipziger Fankrawalle haben die Öffentlichkeit und auch den Deutschen Fußballbund aufgewühlt. Die Gründe für die Gewaltexplosion sind vielfältig und auch in der Mitte der Gesellschaft zu finden

VON GERD DEMBOWSKI

Es ist also entschieden. Auf Vorschlag von Theo Zwanziger, dem Präsidenten des Deutschen Fußballbundes (DFB), setzt der Sächsische Fußball-Verband als Zeichen der Solidarität mit der Polizei seinen kommenden Spieltag aus. Dies gilt für die sächsischen Kreis- bis in die Landesligen, als Reaktion auf die üblen Angriffe von 800 gewaltbereiten Fans des 1. FC Lok Leipzig gegen Polizisten am vergangenen Sonntag. Schon das Fußballspiel Lok gegen Erzgebirge Aue II hatte unterbrochen werden müssen, weil sich Fangruppierungen im Stadion gegenseitig aufputschten – verbal, mit Leuchtspurmunition und geworfener Bengalfackel. Auch „Juden Aue“ sowie „Aue und Chemie – Judenkompanie“ war zu hören. Im Cocktail der Beteiligten traten zahlreiche Leute in den Vordergrund, die sich erkennbar neonazistisch gaben. Mit Reichsadler-Emblemen, die sich mit einem Lok-Symbol kombinierten und mit einem schwarz-weiß-roten Signum „Weiße Wölfe“.

Wer Ursachen damit allein im rechten Rand, bei sogenannten unpolitischen Hooligans oder gar in der verrohenden Jugendkultur verortet, macht es sich zu einfach. Gern werden Ost-West-Vergleiche bemüht, die kaum mehr zeitigen als folgenloses Fingerzeigen auf den Osten. Aktuell verweist man auf „italienische Verhältnisse“, die so konstruiert nur den Stoff für Mythos und Sensation liefern. Gleiches gilt für voreilige Andeutungen, die Ausschreitungen im Umfeld von Catania gegen Palermo hätten eine Vorbildrolle für Leipzig gehabt.

Indem mit dem Finger auf Ränder gezeigt wird, verdrängt die Öffentlichkeit, dass die für solche Gewaltexzesse grundlegenden Elemente gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, sozialdarwinistischer Einstellungsmuster und systemischer Frustration ebenso fest in der Mitte der Gesellschaft verankert sind. Das belegen zahlreiche, auch empirische Studien.

So steht der Fall Leipzig auch symbolisch für das, was mit einer Jugend- und Jungerwachsenenkultur nach dem Mauerfall und der Prophezeiung blühender Landschaften passiert. Aus zunehmender Perspektivlosigkeit und Entfremdung baut sie sich selbst eine Perspektive auf: ein krudes Gemisch aus einfachen Lösungen und Anerkennungssuche durch harten Streetcore-Style. Bei den Ausschreitungen in Leipzig waren genügend Leute übrigens weit jenseits des jugendlichen Alters.

Das ist nicht nur eine Kultur sogenannter Modernisierungsverlierer. Auch das kapitalistische System kann mit seinem Utilitarismus und seiner Ellenbogenmentalität Hooligans der feineren Stände hervorbringen, z. B. rücksichtslose Manager. Der Sport als Form der kulturalisierten, ritualisierten Gewalt bietet einen geeigneten Hintergrund für die Gewaltausbrüche. Ebenso spielt die kathartische Rolle von Massenaufkommen eine Rolle.

Hier öffnen sich Ventile gesellschaftlich bedingter Frustration, damit sich im Alltag immer wieder untergeordnet werden kann. Nicht alle benötigen dazu Fußballrandale, sondern andere Formen von Gewalt. Die Gewalt auf den Rängen verdrängt sich im Zeichen von Kommerzialisierung, zunehmender Überwachung und repressiver Prävention aus dem Stadion hinaus und fällt vor allem im Umfeld unterer Ligen auf. Dort ist der besäuselnde Duft der Kommerzialisierung noch nicht so unausweichlich, dort gibt es weniger Polizei und Ordner, eine offenere Beschaffenheit des Stadions, weniger soziale und mediale Mechanismen. Nicht selten spielen da ehemals erfolgreiche Traditionsvereine, die im Verständnis der Fans woanders hingehören.

Heutzutage treten Zivilisationsbrüche wie in Leipzig im Fußball in Sinuskurven auf. Sie sind nichts Neues, zeigen nicht die viel zitierte neue Qualität. Sie sind dennoch ein ernst zu nehmender, symbolsicherer Indikator für die Zustände in dieser Gesellschaft. Beispiele für Gewalt in und um die Stadien gibt es viele: Es gab die Ausschreitungen 1990 am Rande eines Spiels des FC Sachsen Leipzig, als Mike Polley nach Krawallen aus einer Dienstwaffe erschossen wurde. Da war der brutale Angriff von deutschen Hooligans und Neonazis auf den französischen Polizisten Daniel Nivel bei der WM 1998, die stundenlangen Straßenschlachten zu Kickers Offenbach gegen Waldhof Mannheim 1999, die regelmäßigen Mobilisierungen zu Spielen der DFB-Nationalelf – erst 2006 in der Slowakei und in Slowenien. Die Vorfälle von Leipzig sind ebenso alarmierend und könnten bewirken, dass nicht wieder nur zusätzliche Feigenblätter arrangiert werden.

Gerd Dembowski ist Sozialwissenschaftler und beschäftigt sich seit 12 Jahren mit Fußball-Fanszenen unter anderem für das Bündnis aktiver Fußballfans (Baff)

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