: Gutermuth und Rothermund
ERZÄHLUNG Über einen Künstler, der verschwindet, und einen Beobachter, der das Verschwinden liebt
■ Eine Kurzgeschichte über eine erfundene Biografie und über das Verschwinden in der Welt. Aber es gibt noch etwas: Das Märzlicht wird in dieser Erzählung eingefangen – auch deshalb drucken wir diese bislang unveröffentlichte Geschichte von Jochen Schimmang ab, die ja nicht nur etwas von Aufbruch, sondern auch von Frühling hat. Der Autor, geboren 1948, lebt in Oldenburg. Viele Bücher, zuletzt erschien von ihm der viel beachtete Roman „Das Beste, was wir hatten“ (Edition Nautilus). taz-Lesern ist er außerdem als regelmäßiger Autor von Buchbesprechungen bekannt. Foto: Teja Sauer
VON JOCHEN SCHIMMANG
Nie zuvor war ich in dieser Stadt gewesen. In gewisser Weise war sie die vollkommene Stadt. Sie war nicht klein und nicht riesengroß. Man verband mit ihr nicht irgendeine Bedeutung, das war das Freundliche an ihr. Sie war keine Hauptstadt, nicht die Stadt des Rattenfängers, des Lügenbarons oder des Dichterfürsten. Sie war auch nicht die Stadt des Tangos oder eines besonderen Gebäcks. Sie war keine Textilmetropole und keine Chemiestadt. Sie war nicht die Hauptstadt der Mode oder der Banken. Sie war eine Industrie- und Handelsstadt, aber eine zweitrangige; sie hatte eine Universität, aber eine mittelmäßige; an der ich gestern einen Vortrag gehalten hatte; sie hatte einige Museen, deren Ruf blass blieb. Sie hatte einen Fluss, der sie in zwei ungleiche Teile zerschnitt, aber über den Fluss gab es keine herzbewegenden Lieder oder preisgekrönten Dokumentarfilme. Die Straßen waren breit und zumeist gerade, viele kreuzten sich und bildeten im Zentrum ein Schachbrettmuster. Die beiden größten, die sich in der Mitte der Zentrums kreuzten, waren von Platanen gesäumt, so dass ich mich einen Augenblick lang in einer französischen Provinzmetropole wähnte.
An einer Ecke entdeckte ich ein Museum, das einem einheimischen Maler gewidmet war, 1931 gestorben. Es gab also doch so etwas wie einen Sohn der Stadt, einen berühmten zwar nicht, aber wenigstens einen bekannten – für die Eingeweihten. Er hieß Robert Gutermuth, und ich hatte noch nie von ihm gehört. Aber die von ihm gemalte Stadtansicht, die ich auf einem Plakat sah, gefiel mir: ein Blick von einer Brücke auf eine sich ausfransende Vorstadtlandschaft, mit Fabriken, Schuppen, Schrottplätzen und Schrebergärten, im Hintergrund das Zentrum. Ich ging hinein und war der einzige Besucher. Die Bewohner der Stadt hatten zu tun.
Vier Räume hatte das Museum. Die Stadtlandschaften, wie ich draußen eine gesehen hatte, füllten den ersten Raum, von sehr kleinen bis zu großen Formaten. Ein Teil zeigte die Stadt, in der ich mich gerade befand, der andere das Berlin der Zwanzigerjahre des letzten Jahrhunderts. Das waren die beiden Lebensstationen von Robert Gutermuth gewesen. Drei Jahre vor seinem Tod war er wieder in seine Geburtsstadt zurückgekehrt. Im zweiten Raum fanden sich Porträts, oft von Kaufleuten, Industriellen und Funktionsträgern der Stadt. Ich entdeckte aber auch ein Porträt von Franz Hessel, dem Gutermuth in Berlin begegnet sein musste. Der dritte Raum hieß „Die Reise nach Cornwall“. In dem Büchlein, das ich mir zusammen mit der Eintrittskarte gekauft hatte, wurde erzählt, dass Gutermuth auf Kosten eines Mäzens im Jahr 1911 zwei Monate in Cornwall gewesen war. Der Ertrag dieser Reise hing jetzt in diesem Raum. Es handelte sich weniger um Bilder von schroffen Steilküsten, vom Meer und von malerischen Orten an der Küste, obwohl auch das dabei war. Die Mehrzahl der Bilder zeigte die Zinn- und Erzminen, die damals noch arbeiteten, zeigte Fördertürme und Maschinenhäuser. Auf zwei Bildern waren auch Bergleute zu sehen, die abends im Pub zusammen tranken.
Im vierten Raum, dem kleinsten, hing nur ein einziges Bild in einem sehr großen Format. Es zeigte die Stadtlandschaft, die auf dem Plakat am Eingang des Museums zu sehen war. Auf dem Plakat war jedoch nicht zu ahnen gewesen, wie groß das Bild war. Ich führte die übliche Schrittfolge eines Museumsbesuchers aus, der vor einem monumentalen Bild steht, nah heran und dann wieder drei Schritte zurück, nach links, nach rechts und so weiter. Schließlich setzte ich mich auf einen Stuhl, der in angemessener Entfernung vom Bild stand. Menschen sah man auf ihm nur von oben, von der Brücke: unscharfe Figuren in einer gegenständlichen Welt, die ihrerseits in überdeutlichen Konturen gemalt worden war, so scharf abgegrenzt, wie sie sich dem natürlichen Blick niemals darbietet. Über der Stadt hing eine fahle Sonne. Ich ging endlich zu dem Schildchen links neben dem Bild und las: „Märzlicht, Öl auf Leinwand, 250 x 250 cm, 1930“.
An der Kasse erklärte man mir den Weg zu der Brücke. Draußen überflog ich noch einmal das Büchlein und begriff zum ersten Mal, dass Gutermuth 1931 nicht verstorben, sondern verschollen war. Er war eines Vormittags aus dem Haus gegangen und nicht dorthin zurückgekehrt, auch sonst nirgendwo gesehen worden. „Aus dem Haus gegangen“ war hier keine Metapher. Eine Nachbarin hatte ihn wirklich aus dem Haus gehen sehen, um elf Uhr morgens. Er war damals vierundvierzig Jahre alt. Obwohl Gutermuth allein gelebt hatte, dauerte es nicht lange, bis man ihn vermisste, weil er Termine wegen eines großen Auftrags nicht wahrnahm, den er von einem ortsansässigen Kaufmann erhalten hatte. Alle Nachforschungen blieben ergebnislos; Gutermuth blieb verschwunden.
Geschichten dieser Art sammle ich seit vielen Jahren. Das Schönste an der Welt wird für mich mehr und mehr, dass man in ihr verschwinden kann. Das ist meine Art der Weltfrömmigkeit. Von allen Seinsweisen der Welt – mit denen ich mich als Phänomenologe schließlich berufsmäßig befasse – war diejenige als Versteck für mich schon immer die faszinierendste. Ich las alle Bücher über Verschollene, egal, ob fiktiv oder real. Gutermuths Geschichte kannte ich noch nicht, und das erstaunte mich etwas. Aber ich hatte ja zuvor auch von Gutermuth noch nichts gehört.
Ich ging jetzt über die Brücke in die Vorstadtlandschaft hinein, auf die ärmliche Seite des Flusses. Das Märzlicht machte die Umrisse der Dinge in der Tat sehr klar und scharf. Es war ein Uhr mittags, und zu meiner Überraschung wärmte die Märzsonne tatsächlich. Beinahe war es der erste warme Tag des Jahres. Ein Tag für einen Aufbruch, dachte ich und wanderte jetzt durch die Landschaft, die Gutermuth gemalt hatte. Manches hatte sich naturgemäß geändert, das ehemalige Industriequartier hatte sich mehr in ein Gewerbegebiet verwandelt, und die hohen Backsteinbauten von damals beherbergten heute Firmen, die Namen wie Meinders Personal Consulting, New Line Software oder WestLogistik trugen. Manche der alten Bauten waren ganz abgerissen worden und hatten containerähnlichen Flachbauten Platz gemacht, auf denen sich Schilder mit ähnlich kryptischen Namen fanden. Je weiter ich mich vom Fluss entfernte, desto mehr franste das Gelände aus. Zuerst kamen noch einige Straßen mit Wohnhäusern, dann begannen die Schrebergärten, die noch kaum belebten Gärten im März. Vereinzelte Krokusse leuchteten, gleichsam noch etwas misstrauisch und vorsichtig.
Kurz verschwand die Sonne hinter einer großen grauen Wolke, ein Wind kam auf und blies fünf Minuten heftig, dann legte er sich, die Sonne kehrte zurück. Zwischen zwei Gärten saß ein Maler vor seiner Staffelei, dick vermummt in einer winterlichen Jacke, um deren Kragen ein Schal geschlungen war. Er trug Handschuhe. Ich blieb in einiger Entfernung stehen und sah ihm beim Malen der Gärten zu, sah zu, wie langsam ein Bild in der Art Gutermuths entstand. Vielleicht hatte die durch das Museum gepflegte Erinnerung an den Maler zur Herausbildung einer Art Gutermuth-Schule in den nachfolgenden Generationen beigetragen.
Ich zog das Büchlein aus meiner Manteltasche und verglich die wenigen Abbildungen dort mit dem, was ich auf der Staffelei entstehen sah. Die Parallelen waren verblüffend. Zögernd ging ich auf den Maler zu, das Büchlein noch immer in der Hand. Er warf einen Blick darauf und sagte:
„Ja? Möchten Sie mich etwas fragen?“
Wir waren lange durch die Stadt gegangen, hatten schließlich in einem guten Restaurant gegessen, aber die eigentliche Geschichte wollte mir Rothermund nur in meinem Hotelzimmer erzählen. Vom Restaurant zum Hotel waren es zehn Minuten zu gehen in der fortgeschrittenen Dämmerung, in der plötzlich in allen Straßen die Laternen angingen und um sich dieses tröstliche, vielversprechende Zwielicht schufen, das ich so liebe. Bevor wir das Hotel betraten, ließ Rothermund sich noch einmal von mir versichern, dass ich niemandem diese Geschichte weitererzählen würde, die er mir auch nur deshalb anvertraute, weil ich ortsfremd war und zur Stadt keine weiteren Beziehungen hatte. Ich hatte noch immer keine Ahnung, worum es gehen mochte, bis er oben in meinem Zimmer sagte:
„Also, ich bin Gutermuth.“
Ich verstand im ersten Moment gar nicht, was er sagte, und schüttelte dann den Kopf.
„Gutermuth wäre heute gute hundertfünfzehn Jahre alt, wenn er noch lebte, und so sehen Sie mir wirklich nicht aus.“
Rothermund, der Gutermuth zu sein behauptete, antwortete: „Gutermuth ist immer so alt, wie ich bin, und keinen Tag älter.“ Ich fing nun an zu begreifen und unterbrach ihn nicht mehr, als er mir zügig und ohne Schnörkel die ganze Geschichte erzählte.
Die Stadt, in der ich heute morgen erwacht war, hatte immer darunter gelitten, dass sie, außer im unternehmerischen Bereich, niemals einen großen Sohn oder eine große Tochter hervorgebracht hatte. Besonders der Kulturdezernent litt darunter, aber auch der Oberbürgermeister und die anderen maßgeblichen Herren und Damen in der Stadt. Als Rothermund eines Tages erkannt hatte, dass er ein zwar guter, aber nicht überragender Maler werden würde, führte er ein sehr geheimes Gespräch mit dem Kulturdezernenten, dem eine ganze Reihe von Gesprächen mit anderen Funktionsträgern folgte. Über keines davon gibt es schriftliche Zeugnisse, nicht die geringste Aktennotiz. Auch der Vertrag, den die Stadt mit Rothermund schloss, damit er Gutermuths Bilder malte und seine Biografie erfand (die dann ein arbeitsloser Kunstgeschichtler schrieb, der später die Leitung des Museums übernahm), ist nur mündlich geschlossen worden und galt weiterhin per jährlichem Handschlag.
„Ich soll nun noch eine kleine Serie Schrebergärten malen, die der Stadt aus dem privaten Vermächtnis eines in Amerika gestorbenen Millionärs übereignet werden, dann ist meine Mission beendet. Wenn noch zu viele alte Gutermuths entdeckt werden, wird das unglaubwürdig.“
„Und was wird dann aus Ihnen? Wie verdienen Sie dann Ihr Geld?“
„Nun, die Stadt hat mir bisher meine Arbeit vergütet. Danach wird Sie mir mein Schweigen vergüten. Ich fordere keine unbilligen Summen. Ich möchte nur mein Auskommen haben und reisen können. Ich bin offiziell im Übrigen Angestellter des Kulturamts, für besondere Aufgaben. Meine Bank muss ja auch wissen, woher regelmäßig das Geld kommt und dass alles seine Ordnung hat.“
Die Konstruktion der Biografie war das schwierigste Stück Arbeit gewesen. Die Zeitzeugen und Familienangehörigen, die etwas zu Gutermuth gesagt hatten, mussten selbstverständlich alle verstorben sein – auch jene Frau, die ihn damals hatte aus dem Haus gehen sehen. Nachkommen hatte er nicht. Ein Grab für ihn wäre zu aufwendig gewesen, deshalb war er einfach verschwunden.
„Schließlich ist er eines Tages auch einfach aufgetaucht“, sagte Rothermund jetzt. „Er ist meiner Kenntnis nach der einzige Verschwundene, den es niemals gegeben hat. Manchmal melden sich bei der Stadt noch alte Menschen, die behaupten, ihn 1952 in Zürich oder 1966 in New York gesehen zu haben. Wir nehmen das natürlich dankbar auf und streuen es in der Presse, denn das gibt ihm mehr Wirklichkeit. Mehr Fleisch, gewissermaßen. Am schwierigsten wird es sein, ihn in die Kunstlexika zu schmuggeln. Bisher haben wir das erst bei einem geschafft.“
„Die hiesigen Stadtlandschaften, auf Zwanzigerjahre getrimmt“, sagte ich, „das kann ich nachvollziehen. Aber wie haben Sie das Berlin von damals hinbekommen? Und das alte Cornwall der Zinnminen?“
„Nun, es gibt Fotos, und es gibt Bilder von damals“, sagte Rothermund. „Und oft malt es sich nach Fotos und Bildern besser als nach der Wirklichkeit.“
Es war schon neun, als ich am nächsten Morgen im Hotel erwachte. Den Frühstücksraum okkupierte eine Reisegruppe, deren Angehörige sich über die Tische hinweg unterhielten. Es war ja Samstag, wahrscheinlich waren sie am Abend zuvor angekommen. Ich konnte mir nicht vorstellen, was sie in dieser Stadt suchten. Wie potenzielle Bewohner des Gutermuth-Museums sahen sie nicht aus. Ich ging gleich wieder nach oben und packte meine Sachen. Dann zahlte ich und ließ meine Tasche an der Rezeption verwahren. Ich schlenderte zum nächsten Buchladen, kaufte mir Gutermuths Biografie und las in einem Café beim Frühstück das Kapitel über sein Verschwinden. Gutermuth hatte es natürlich einfacher gehabt als ich, weil er nie gelebt hatte.
Die Sonne kam nur ab und zu durch den Dunst, der den blauen Himmel und die weißen Wolken des gestrigen Tages abgelöst hatte. Es war kühl, aber fast windstill. Der Tag war nicht wirklich grau und bleiern, eher diesig und luftig zugleich. Genau der richtige Tag, fand ich.
Ich ging zum Hotel zurück, ließ mir meine Tasche geben und ein Taxi rufen. Eine junge Frau mit dunklem Haar und einem großen leeren Gesicht kam aus dem Fahrstuhl, einen Stadtplan in der Hand. Bevor sie zum Ausgang ging, zögerte sie einen Moment und sah mich fest an. Ich konnte mich nicht erinnern, sie je zuvor gesehen zu haben. Vielleicht hatte aber sie mich schon einmal gesehen. Vielleicht war sie sogar eine ehemalige Studentin von mir. Ich vergesse leicht Gesichter.
Dann wandte sie ihren Blick ab und verließ das Hotel. Sie ist vielleicht die Frau, dachte ich in diesem Moment, die später sagen wird, sie habe mich noch an diesem Morgen in diesem Hotel gesehen, kurz nach zehn. Jeder Zweifel ausgeschlossen.
Dann kam der Taxifahrer ins Foyer, ein junger Asiat. Er nahm meine Tasche; ich folgte ihm zum Wagen und stieg ein. Er sah mich an und wartete, und als ich nichts sagte, fragte er schließlich:
„Wohin fahren wir?“
„Fahren Sie einfach los“, sagte ich.