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Archiv-Artikel

Clooney war schon da

TAZ-SERIE STADTFLUCHT Mit der Tram nach Rüdersdorf zu reisen ist für sich schon ein Erlebnis. Doch auch der Ort selbst hat mit einem Museumspark erstaunliche Eindrücke zu bieten

taz-Serie Stadtflucht

■ Wer kennt das nicht: die Stadt zu laut, zu groß, zu voll. Selbst die Sommerferien sorgen längst nicht mehr für Entschleunigung, die urlaubenden BerlinerInnen werden durch Schwärme von Touristen ersetzt. Wie gut, dass wir in Berlin leben: umgeben von idealen Ausflugszielen für Kurztrips, die näher liegen, als man oft glaubt.

■ In loser Reihenfolge fahren unsere AutorInnen ins Umland und schreiben darüber. Ihr Ziel können sie frei wählen, einzige Voraussetzung: Es muss für maximal 10 Euro erreichbar sein.

■ In den nächsten Wochen folgen Trips mit der Heidekrautbahn nach Wandlitz, in den Naturpark Barnim und zu einer der größten Kriegsgräberstätten nach Halbe im Spreewald.

VON HENNING RASCHE

Die Tram 88 nähert sich als feuerroter, uralter, aber gleichwohl schmucker Teil Straßenbahngeschichte. Sie kommt im S-Bahnhof Friedrichshagen sehr gemächlich auf dem abgelegenen Baustellengleis an, das man erst findet, als man sich schon am völlig falschen Ort wähnt. Wie passend, dass die Tram 88 im 20-Minuten-Takt fährt – so bleibt meist auch noch die Zeit für die Suche nach der Haltestelle.

Der Berliner will aus der Stadt flüchten, hinaus aus dem Gewimmel und Gewusel, weg vom Stress der überladenen Hauptstadt. Mit einer Flucht hat die Reise nach Rüdersdorf allerdings wenig zu tun: Mit der laut Schöneicher-Rüdersdorfer Straßenbahn „einzigen Schmalspurstraßenbahn im Berliner Raum“ läuft alles gesittet ab, ein bisschen aus der Zeit gefallen.

Das Interieur der Linie 88, die im Rahmen des Verkehrsverbunds Berlin-Brandenburg fährt, hat sich augenscheinlich seit 50 Jahren nicht verändert, die Holzbänke knarzen. Hier drinnen zieht sich eine recht bizarre Mischung durch das Design: Mal sind die Bänke mit kunterbunten Stoffen, mal mit grünem Leder überzogen. Ein Holzstuhl ist als weitere Sitzgelegenheit mit Schrauben provisorisch am Boden befestigt, aber er hält. An einer anderen Sitzreihe gibt es sogar einen kleinen Tisch.

Ein Kuss zum Tausch

Ein Dialog zwischen dem Fahrer und einem Gast über den Geburtstag einer Bekannten verzögert die Abfahrt etwas. Und kaum, als sich die Bahn in Bewegung gesetzt hat, springt ein älterer Herr mit beigem Mantel und riesigem Rucksack auf, um den „Halt“-Knopf zu drücken. Am Betriebsbahnhof ist Fahrerwechsel, seit gut fünf Minuten sind wir da unterwegs. Die Ehefrau löst ihren Gatten als Fahrer ab, ein Kuss begleitet den Tausch. Die Fahrgäste grüßen beide recht freundlich – man kennt sich anscheinend. Die Fahrgäste sind ruhig, Gespräche sind während der 25 Minuten bis zum Ziel wegen des lärmenden Ratterns sowieso kaum möglich.

Die Gemeinde Rüdersdorf hat etwa 15.000 Einwohner, von denen man auf der Reise dorthin aber nur wenigen begegnet. Die Haltestelle Heinitzstraße soll das Ziel sein. Dort liegt der Museumspark, den Google schon als dritten Treffer mit Rüdersdorf assoziiert. „Industriegeschichte erleben, entdecken und erforschen“, wirbt ein ausliegender Flyer. Im Kassenhäuschen mit behindertengerechter Toilette gibt eine Frau im roten Polohemd Auskünfte. Ein wenig enttäuscht ist sie, als man sich nur „mal umsehen“ will.

Die lange Straße im Museumspark führt an einem Imbiss vorbei, der Schnitzel mit Kartoffelsalat auf der Karte anbietet, hin zum Streichelzoo. Zwei grunzende Schweine freuen sich, wohl weil sie hinter jedem Besucher Futter zu wittern glauben. Hühner, Albinohasen und Esel gucken auch alle ganz freundlich. Was der Streichelzoo in einem Industriemuseum verloren hat, erschließt sich aber nicht.

Aus Rüdersdorf kam der Kalkstein für das Olympiastadion, das Brandenburger Tor und das Potsdamer Schloss Sanssouci. Seit 750 Jahren wird der Stein in Märkisch-Oderland gebrochen und gebrannt.

Für fünf Euro Eintritt (Kinder drei Euro) bietet der Museumspark auf etwa 17 Hektar Fläche eine Reise durch die Geschichte des Kalkwerks Rüdersdorf. Im geologischen Museum lassen sich Spuren der Eiszeit verfolgen oder an Industriedenkmälern die Arbeit vergangener Jahrhunderte nachvollziehen. Bereits um etwa 1220 baute man in Rüdersdorf Kalk ab. Touren mit einem Geländewagen am Tagebau entlang sind zusätzlich buchbar, wie auch historische oder geologische Führungen.

Beste Filmkulisse

Sogar George Clooney war schon hier, wenn auch nicht wegen der Historie des Kalkwerks: Clooney hat in Rüdersdorf Szenen seines „Monuments Men“-Films gedreht. Vom Plateau im Museumspark aus sieht man die Ruine eines alten Chemiewerks, die häufig als Filmkulisse dient. Ausgebrannt sieht es aus, ein faszinierender Anblick zwischen Zerstörung und Neuanfang: Bäume und Sträucher wachsen auf dem Dach des Wracks.

Diese Mauern erzählen jedem Besucher eine eigene Geschichte: Im Museumspark kann jeder Drehbuchautor spielen, seine Fantasie entfesseln und Muße finden.

Wer Rüdersdorf nur kennt, weil seine Pakete vom dortigen Frachtzentrum kommen, droht etwas zu verpassen: den Blick auf das Strausberger Mühlenfließ, das Grunzen der Schweine und die unterschätzte Historie des Kalksteins. Und natürlich: eine Fahrt mit der Tram 88.