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Archiv-Artikel

Tsunami trifft Japan

ERDBEBEN Ein Megabeben fordert über 1.000 Opfer, viele Menschen bleiben vermisst. Das Zentrum liegt im Nordosten

Die Behörden müssen zeigen, dass sie aus der Erdbebenkatastrophe in Kobe gelernt haben

AUS TOKIO MARTIN FRITZ

Erst bebt die Erde, danach brechen Feuer aus, schließlich überflutet Wasser die Küsten. Dieses Katastrophendrehbuch kennen die Japaner seit Jahrhunderten in- und auswendig. Doch an diesem Freitagnachmittag um 14.46 Uhr Ortszeit kam alles stärker und schlimmer, als sie es je zuvor erlebt haben. In 24 Kilometer Tiefe, etwa 130 Kilometer vor der Millionenstadt Sendai und der Provinz Miyagi an der Nordostküste ruckte der Meeresboden und löste Erschütterungen der Stärke 8,9 auf der Richterskala aus – ein so heftiges Beben wurde in Japan in den letzten 140 Jahren noch nie gemessen.

Selbst im 400 Kilometer entfernten Großraum Tokio mit seinen 30 Millionen Bewohnern schwankten die Häuser minutenlang. Die Menschen flüchteten sich panikartig unter Tische und rannten auf die Straße. Flammen schlugen aus einem Hochhaus der japanischen Telekom in Odaiba, in einer Ölraffinerie in Chiba breitete sich über Stunden ein gewaltiges Feuer aus. Die Shinkansen-Superschnellzüge blieben automatisch stehen, dann bewegten sich U- und S-Bahnen nicht mehr. Viele Passagiere mussten auf den Strecken aussteigen. Die Handynetze und Telefonleitungen brachen zusammen.

Die eigentliche Katastrophe rollte da längst auf die mehrere hundert Kilometer lange Nordostküste am Pazifik zu. In der Provinz Fukushima überrannte ein 7,3 Meter hoher Tsunami mühelos alle Uferbefestigungen und schwemmte ganze Dörfer weg. Anhand von Fernsehbildern, die aus einem Hubschrauber kamen, konnte die übrige Nation live verfolgen, wie die Riesenwellen Autos, Lastwagen und Häuser verschluckten und sich bis zu anderthalb Kilometer tief ins Hinterland ergossen. Auch Kinder verschwanden in den reißenden Fluten. Bäche und Flüsse wurden gegen ihre Laufrichtung aufgestaut und traten über die Ufer. Ein Schiff vor der am schwersten betroffenen Provinz Miyagi mit 100 Personen an Bord wurde weggespült, ein ganzer Zug als vermisst gemeldet.

Schon das Beben hatte beträchtliche Schäden in Sendai und den übrigen Küstenstädten angerichtet. Fassaden bröckelten, viele Gebäude fielen in sich zusammen. In zwei Atomkraftwerken brannte es ebenfalls, angeblich gab es aber keinen Austritt von Radioaktivität. Im Umkreis einer Anlage wurde der Notstand ausgerufen und wurden 6.000 Menschen evakuiert.

Doch die Flutwellen richteten die schlimmsten Zerstörungen an. Nach unbestätigten Berichten war der Tsunami, der den Hafen von Sendai traf, bis zu 10 Meter hoch. Die Monsterwellen setzten auch den Flughafen von Sendai, einen Kilometer von der Küste entfernt, unter Wasser. Die Reisenden mussten auf das Dach des Terminals flüchten. Teile der Stadt waren spätabends noch überschwemmt und ohne Strom – viele Leitungen waren gekappt, elf Atomkraftwerke hatten sich selbst abgeschaltet. Schließlich dann die befürchtete Nachricht: Am Strand von Sendai wurden mehreren hundert Leichen gefunden. Insgesamt sollen mehr als 1.000 Menschen infolge des Bebens ums Leben gekommen sein, meldete die japanische Nachrichtenagentur Kyodo am Freitagnachmittag MEZ.

Während die Nachrichtensprecher im Fernseher wegen der ständigen Nachbeben mit Plastikhelmen auf dem Kopf die Menschen an den Küsten vor neuen Tsunami warnten, lief im Regierungsviertel in der Hauptstadt Tokio die staatliche Maschinerie an. Premierminister Naoto Kan rief die Bevölkerung im Fernsehen zur Ruhe auf. Acht Kampfflugzeuge stiegen auf, um sich einen Überblick über die Auswirkungen der Katastrophe zu verschaffen. Die Behörden müssen nun beweisen, dass sie aus der letzten Erdbebenkatastrophe 1995 in Kobe, die 6.400 Todesopfer forderte, gelernt haben. Damals hatte sich Japan nicht mit Ruhm bekleckert: Tagelang herrschte Kompetenzchaos, in- und ausländische Helfer durften Kobe nicht betreten.

Die Bank von Japan bildete am Freitag einen Krisenstab und versprach, den Finanzmarkt zu stabilisieren. An der Börse waren kurz vor Handelsschluss vor allem die Aktien der Versicherer eingebrochen. Auch die bislang zerstrittenen Parteien sammelten sich hinter der Regierung Kan, die eigentlich kurz vor dem Aus stand. Die Opposition, die seit Wochen den neuen Haushalt blockiert, will nun neuen Ausgaben für den Wiederaufbau zustimmen. Allerdings ist Japan bereits jetzt das am höchsten verschuldete Land der Welt.