: Die große Moderation des Klimawandels
Angesichts steigender Temperaturen spielt die Gesellschaft das alte, durchschaubare Spiel: Aufregung aufgrund alarmierender Szenarios – und Abwieglung, sobald Konsequenzen eigene Interessen berühren. Ein Plädoyer dafür, die ökologischen Probleme der Zukunft reflektierter anzugehen
VON DIRK BAECKER
In den Seminaren von Niklas Luhmann in Bielefeld in den 1980er-Jahren spielten Zwergkängurus eine bedeutende Rolle. Sie waren das Paradigma, an dem sich schulen musste, wer von der modernen Gesellschaft etwas verstehen wollte. Katrin Volger schrieb gerade ihre Dissertation über diese Tiere und berichtete Eigentümliches aus deren Sozialverhalten. Sie hielt diese Tiere für exzeptionell dumm und erzählte gerne, wie es unter den still vor sich hin grasenden Tieren ab und an und ohne erkennbaren Anlass zu großen Aufregungen und Prügeleien kam, die sich gefährlich steigerten, bis sich plötzlich wie auf Kommando alle Tiere in eine Reihe setzten und für eine Weile in dieselbe Richtung schauten. Daraufhin beruhigten sich die Tiere und grasten wieder still vor sich hin.
Luhmann fand das grandios. Er erklärte, offensichtlich würden sich die Tiere durch eine Synchronisation ihrer Umweltwahrnehmung unter Ausschluss von Sozialwahrnehmung beruhigen. Alle sehen dasselbe, ein Stück Wiese, ein paar Büsche. Und da alle nebeneinander sitzen, sehen sie nicht sich selbst. Sie schauen sich nicht an und haben deswegen auch keinen Grund mehr, sich aufzuregen.
Der Klimawandel konfrontiert die moderne Gesellschaft mit einem strukturell ähnlichen Problem. Solange alle Mitglieder der Gesellschaft in dieselbe Richtung schauen, gibt es mittlerweile offensichtlich kaum noch einen Grund, daran zu zweifeln, dass dringend etwas getan werden muss, um den Ausstoß an Treibhausgasen drastisch zu reduzieren. Die „große Transformation“, von der Rolf Peter Sieferle mit dem Blick auf die unheilige Allianz von Industriegesellschaft und Ausbeutung fossiler, nicht erneuerbarer Energien spricht, muss zu einem Abschluss gebracht werden, um intelligente, weniger auf den Raubbau an ihren eigenen Voraussetzungen angewiesene Formen der gesellschaftlichen Reproduktion zu finden.
Doch sobald dieselben, eben noch so einsichtigen Menschen in ihren Institutionen und Organisationen, Systemen und Netzwerken, Cliquen und Milieus nicht auf diese eine bedrohte Umwelt schauen, sondern sich umdrehen und sich gegenseitig zu Gesicht bekommen, ist es mit dem Frieden und mit der Einsicht vorbei. Es beginnt ein Hauen und Stechen um die jeweils um eine Nuance privilegiertere Position, dass jedem einigermaßen kühlen Beobachter Angst und Bange werden muss. Jeder ist darum bemüht, den anderen zum wichtigen ersten Schritt aufzufordern, zugleich jedoch der Letzte zu sein, der irgendetwas für ihn Wichtiges aufgibt.
Hinreichend klar ist inzwischen, dass Appelle, sich an eine Moral des Verhaltens zu halten, die auf der Höhe der eigenen Einsichten ist, angesichts der Steigerungsdynamik der immer noch industriell verfassten Gesellschaft fruchtlos sind. Die große alte Dame der Anthropologie, Mary Douglas, hat auf einem Soziologentag einmal darauf hingewiesen, dass die moderne, in einem Zuge individualistisch, liberalistisch und expansionistisch eingestellte Gesellschaft prinzipiell unfähig ist, aus ihrem Verdacht gegen alle Formen der Kontrolle auszusteigen und jene mühsam genug abgebauten Hierarchien wieder aufzubauen, die in der Lage sind, zu verbieten, was jetzt verboten werden muss. Denn das ist ja das Dilemma. Es liegt auf der Hand, was getan werden muss; aber es gibt keine Möglichkeiten, für die erforderlichen Einschränkungen des Verhaltens die erforderliche Zustimmung zu organisieren. Wer für Einschränkungen im nötigen Ausmaß plädiert, sieht sich mit dem Verdacht des Ökofaschismus konfrontiert und flüchtet sich in die vage Hoffnung, dass der technische Fortschritt es schon richten wird.
In dieser Situation kommen wir nur einen Schritt weiter, wenn wir uns auf eine der wichtigsten Einsichten der Systemtheorie besinnen. Sie besteht darin, dass die moderne Gesellschaft es nicht etwa mit nur einer, sondern mit vielen Umwelten zu tun hat. Alles wäre ganz einfach, wenn die Gesellschaft als ein Kollektivorgan zu verstehen wäre, das wie einst der Leviathan eine gewisse Ordnung nach innen aufrecht erhält, während es sich gleichzeitig mit den Anforderungen seiner natürlichen Umwelt auseinandersetzt. Dann bräuchte man nach dem aktuellen französischen Vorschlag nur dieses Kollektivorgan mit einem Sensorium für Umweltschäden auszustatten und etwa die UNO damit beauftragen, alles Erforderliche zu unternehmen, um diese Gesellschaft so nachzujustieren, dass sie damit aufhört, den von ihr produzierten Dreck in der Natur abzuladen.
Tatsächlich jedoch ist die moderne Gesellschaft kein Kollektiv, das auf diese Art und Weise zu einem kollektiv bindenden Verhalten in der Lage wäre. Es gibt keinen Mechanismus, der es ihr erlauben würde, Einschränkungen des Verhaltens auf einer gesamtgesellschaftlichen Ebene zu legitimieren und durchzusetzen. Stattdessen hat sich die moderne Gesellschaft in Subsysteme differenziert, die ihre eigene Form gefunden haben, ihre jeweilige innergesellschaftliche Umwelt zu bewältigen. Die Politik hat es mit misstrauischen Wählern zu tun, die Wirtschaft mit launischen Kunden, die Erziehung mit rebellischen Schülern, die Religion mit skeptischen Gläubigen, die Kunst mit traurigen Genießern, die Medizin mit trotzigen Kranken und die Wissenschaft mit besorgten Forschern. Jede einzelne Organisation, die sich in diesen Systemen einnistet, muss ihren eigenen Weg finden, mit der Ungewissheit fertig zu werden, nicht wissen zu können, welche Zukunft ihr bevorsteht. Und jede Interaktion unter den Menschen, die sich in diesen Verhältnissen bewegen, muss schauen, wie man noch die Leute findet, die bereit sind, mitzuspielen und die erforderlichen Kompetenzen zu erwerben.
Ökologische Problemstellungen gibt es nicht nur zwischen Gesellschaft, Mensch und Natur, sondern auch zwischen den vielen sozialen Institutionen in ihren jeweiligen Nischen und vielleicht sogar innerhalb jedes einzelnen Systems, wenn man davon ausgeht, dass soziale Zusammenhänge grundsätzlich so prekär sind wie natürliche. Ordnung und Irritation sind zwei Seiten derselben Medaille, so dass man sich nicht nur um die Nachtfalter in ihren Hecken, sondern auch um die Analysten an ihren Bildschirmen Sorgen machen muss. Die einen wie die anderen gehören, wenn sich die Verhältnisse auch nur minimal verschieben, zu den vom Aussterben bedrohten Arten.
Zu viel Resonanz für Umweltfragen geht, darauf hatte Niklas Luhmann in seinem Buch „Ökologische Kommunikation“ 1986 hingewiesen, mit zu wenig Resonanz Hand in Hand. Anders gesagt, jedes einzelne dieser sozialen Systeme hat so viele und so gute Gründe, die Problematik des Umweltschutzes entweder gar nicht oder auf seine Weise zu bearbeiten, dass es nahezu ausgeschlossen ist, zu einem gesellschaftlich integrierten Katalog von Maßnahmen zu finden. Selbst wenn die Politik von Rio de Janeiro 1992 bis Kioto 1997 gewaltige Fortschritte in der Einsicht in das Notwendige gemacht hat und selbst wenn niemandem in Wirtschaft und Kultur das Stichwort der Nachhaltigkeit mehr fremd ist, so ist es immer noch ein langer Weg von diesen Einsichten zur Möglichkeit, sich innerhalb der gesellschaftlichen Dynamik auch an sie zu halten.
Wir haben keine andere Möglichkeit, als den Kängurus, bildlich gesprochen, beizubringen, sich gegenseitig anzuschauen, während sie sich abregen. Wir müssen lernen, unsere Umweltwahrnehmung nicht mehr unter Ausschluss, sondern unter Einschluss unserer Sozialwahrnehmung zu organisieren. Wie aber macht man das? Nichts einfacher als das. Es genügt, den ökologischen Blick, wie Bruno Latour in seiner politischen Ökologie gezeigt hat, auch auf die Binnenverhältnisse der Gesellschaft zu lenken und auch dort nicht nur den kollektiven Sünder, sondern auch hochgradig differenzierte Verhältnisse zu entdecken, die bereits „gut unterwegs“ sind, Antworten auf ihre eigenen Probleme zu finden.
Auf die große Transformation antwortet die große Moderation, innerhalb derer die Gesellschaft lernt, nicht nur nach außen, sondern auch nach innen mit verschiedenen Umwelten zu rechnen und daher davon auszugehen, dass Kirchen, Schulen und Unternehmen, Behörden, Theater und Krankenhäuser, Parteien, Verbände und Redaktionen ihre eigenen und jeweils guten Gründe haben, so zu agieren, wie sie agieren.
Das heißt in keinem Fall, dass man mit den Ergebnissen einverstanden sein muss, im Gegenteil. Aber es heißt in jedem Fall, dass man nur mit diesen Einrichtungen und nicht gegen sie operieren kann. Ihren Dreck produziert die Gesellschaft auf einer Ebene erster Ordnung. Sie tut, was sie tut, und sie tut es so lange, wie es nicht auffällt beziehungsweise wie die Beobachter auf Abstand gehalten werden können. Ihre Lösungen jedoch kann die Gesellschaft nur auf einer Ebene zweiter Ordnung produzieren.
So wie der ökonomische und der politische Diskurs der Moderne gelernt haben, von den Konsumenten und den Wählern her zu denken, mit nicht immer erfreulichen Resultaten, so müssen auch der ökologische und der moralische Diskurs es lernen, nicht von den besorgten Beobachtern, sondern von den so oder so bedrohten Arten her zu denken. Wie schützt man die Industrie davor, an ihrem eigenen Versagen in Sachen Umweltschutz zugrunde zu gehen? Wie schützt man die Parteien davor, zugunsten ihrer Wahlerfolge heute jede Aussicht auf Wahlerfolge morgen aufzugeben? Wie kann man den Kirchen dabei helfen, gegenüber den Sekten attraktiv zu bleiben? Wie kann man den Universitäten dabei helfen, nicht jeden intelligenten Nachwuchs an das Prekariat zu verlieren?
Die Situation ist ja durchaus offen. Im Verhältnis zum ersten Bericht aus dem Jahr 2001 hält das Intergovernmental Panel on Climate Change, das Anfang Februar seinen zweiten Bericht über den Klimawandel veröffentlicht hat, sowohl eine bessere als auch eine schlechtere Entwicklung für möglich. 2001 hieß es, dass sich die durchschnittliche Temperatur auf der Erde bis 2100 um 1,4 bis 5,8 Grad Celsius erhöhen würde. In diesem Jahr heißt es, dass sich die Temperatur um 1,1 bis 6,4 Grad erhöhen würde. Das heißt, die Situation ist möglicherweise dramatischer, aber die Vorhersage ist in jedem Fall ungewisser. Wegen möglicher Rückkopplungseffekte ist es nicht einmal ausgeschlossen, dass die globale Erwärmung sich selber reduziert.
Weil man jedoch auch dies nicht genau wissen kann, hilft nichts anderes, als die präziseste Beobachtung mit der nach Möglichkeit schwächsten Form der Intervention zu kombinieren. Die schwächste Form der Intervention ist die Moderation. Für sie gibt es verschiedene Formate, die von der Aufklärung und den Glauben über den Markt und das Gesetz bis zum gemeinsamen Kunstgenuss reichen. Alles hilft, was denjenigen hilft, die selber herausfinden müssen, wie sie die Probleme, die sie produzieren, in den Griff bekommen können.