Gruselwort Schönheit

Bilderreise zu den Sehnsuchtsorten: In der Kestnergesellschaft Hannover gibt sich Wolfgang Tillmans teils sinnlich, teils offen politisch. Er ist immer noch der wandelbarste der deutschen Fotografie-Stars

Dranbleiben. Zumindest so lange, bis ein schwuler Kuss weltweit als schön gilt. Das ist Wolfgang Tillmans’ Lackmustest

VON TIM ACKERMANN

„Schönheit!“, sagt Wolfgang Tillmans, „Schönheit ist ja wohl so was von relativ!“ Aber wieso, bitte? Seine Lilie in der Plastikflasche war doch nun wirklich schön. Oder die Schläfer am Strand. Oder der pinkelnde Punk. Der poetischste aller zeitgenössischen Fotografie-Stars sollte am besten wissen, was schön ist. Doch „Schönheit“ ist für Tillmans ein Gruselwort: „Der Schönheitsbegriff ist eben ein sehr politischer“, sagt er. „Was schön ist, ist gesellschaftlich akzeptabel.“

Dass seine Arbeiten gesellschaftlich akzeptiert sind, würde Tillmans abstreiten. Angesichts der politischen Lage von Texas bis Teheran. Die aufgeklärtere Kunstwelt jedoch hat den in London lebenden Deutschen fest in ihre Arme geschlossen: Turner Prize im Jahr 2000, große Einzelschauen in Hamburg (2001) und London (2003). Momentan touren seine Arbeiten durch die USA. Doch der gebürtige Remscheider zieht seine Fotos in verschiedenen Formaten ab und hat immer noch genügend Material, um die erste institutionelle Einzelausstellung in Deutschland seit fünf Jahren einzurichten. Voilà: Die Kestnergesellschaft in Hannover zeigt „Bali“.

Bali – auch so ein Sehnsuchtsort. Die Sehnsucht gehörte stets zur Rezeption von Tillmans’ Fotografien. Das Fernweh nach fremden Gefühlsgestaden; der Wunsch, aus Konventionen auszubrechen. Der Künstler gibt zu, Identifikationsbilder gemacht zu haben. Mit Lutz und Alex beim Klettern im Baum. Der Blick aus dem Flugzeug, wenn sich Himmel und Wolken verbinden. Die schwitzenden Körper beim hemmungslosen Rave. Tillmans traf den Nerv einer Generation zwischen hedonistischer Feierwut und Teenage-Angst. Heute gilt er als Chronist der 90er-Jahre. Doch war er auch ein Rattenfänger. Er lockte mit der sehr erträglichen Leichtigkeit des Seins. Verweigerung als Lebensentwurf.

Das ist jetzt 15 Jahre her. In der aktuellen Ausstellung in Hannover fällt zuerst die ungewohnte Präsentation ins Auge. Früher verstreute der Künstler seine Fotos in unregelmäßigen Clustern auf den Wänden. Heute hängt er brav in Reihe. Ein wohl notwendiger visueller Kontrapunkt zur Tischinstallation „Truth Study Centre“, die in überbordender Materialfülle durch die Ausstellung mäandert.

Viele neue Motive sind zu sehen. Ein aktueller „paper drop“, eine jener makellosen Aufnahmen von übergeschlagenem Fotopapier, hängt neben zwei aufreizend beiläufig fotografierten Interieurs. An anderer Stelle stößt man auf ein grandioses Porträt von Richard Hamilton. Tillmans hat den Vater der Pop-Art ganz entmystifizierend als alten Mann im braunen Mantel abgelichtet. Dazu stellt der Fotograf überraschend auch dreidimensionale Objekte aus: eine Riesenschachtel „Milka Millennium Edition“, die Jubiläumstasse zum Einhundertsten der Queen Mum oder einen Gong aus Gold. Objekte, die aussehen wie Treibgut eines bekifften Shoppingnachmittags bei Harrod’s.

Der Plunder ist Teil des „Truth Study Centre“, einer Installation, die zum ersten Mal in Deutschland präsentiert wird. Auf den Tischen liegen Exponate zu harten Themen: Aids, Rechtsradikalismus, die Diskriminierung homosexueller Menschen. Das Material mischt der Künstler bei jeder Ausstellung neu, zu spannenden, überraschenden, mitunter auch witzigen Assoziationsketten. Gezeigt werden Tillmans’ eigene Fotos, gefundene Bilder, Texte aus Büchern und vor allem: Zeitungsartikel. Nicht immer war der Künstler so medienbegeistert. Seine Fotoarbeit für Magazine wie i-D oder Spex sei damals ein gezielter Gegendiskurs gewesen, sagt er. „Ich habe mich in den 80er-Jahren in den Medien nicht repräsentiert gefühlt.“ Heute ist seine aufgeklärte Meinung durchaus Leitartikel-kompatibel, wie das „Truth Study Centre“ zeigt.

Tatsächlich präsentiert die Installation auch Tillmans’ emotionalen Zwiespalt. Natürlich muss der 38-Jährige politisch korrekt das Prozesshafte jeglicher „Wahrheitssuche“ betonen. Und doch hat er häufig Standpunkte, die für ihn eher „nicht relativierbar“ sind. Beispiel „Islamismus“: Auf dem Tisch ein abgerissener Aufkleber. „Islamische Werte gegen westliche Werte“ – als Überschrift. Darunter stehen, abwertend gemeint, die „westlichen Werte“: „Homosexualität, Alkohol, Glücksspiel.“ Man mustert den Sticker ungläubig, wie einen seltenen brasilianischen Schmetterling. Dass es so was gibt! „In London ist das Realität“, sagt Tillmans. „Das sind Islamofaschisten. Dagegen sind die deutschen Islamisten Waisenknaben.“

Direkter, härter ist Tillmans in dieser Arbeit geworden. Verloren ist die spielerische Unbekümmertheit früherer Werke. Warum gerade jetzt der Schritt zur offen politischen Kunst? „Eigentlich ist das Interesse kontinuierlich da gewesen“, erzählt Tillmans. Bestimmte Zeitungsartikel sammle er schon seit den frühen 90er-Jahren. Im Grunde drehe es sich beim „Truth Study Centre“ genau darum. Dass man in jedem Moment solche Forschungen anstellen kann. „Man muss einfach dranbleiben“, sagt er. Zumindest so lange, bis ein schwuler Kuss weltweit als schön gilt. Das sei so ein Lackmustest.

Und sollte bei der Forschung im Wahrheitslabyrinth doch mal Erschöpfung drohen, wirkt ein Blick auf die Wände belebend. Hier erscheint sie noch mal in betörender Leichtigkeit, die Tillmans’sche Fotografie. Zum Beispiel bei „paper drop (rainbow)“, wenn das in leichter Unschärfe aufgenommene Fotopapier dem Auge eine ephemere Räumlichkeit vorgaukelt. „Ich habe eine fetischistische Nähe zu Fotopapier“, erklärt Tillmans seine Materialwahl. „Das sind unmittelbar sinnliche Objekte. Obwohl: ‚Sinnlich‘ ist jetzt auch wieder so ein Gruselwort.“ Er hält inne, denkt nach. „Ach nee, die sind schon so: sinnlich!“

Bis 6. Mai, Kestnergesellschaft Hannover, Katalog 49,80 €