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Archiv-Artikel

Späte Würdigungen

Elegie im Blitzlichtgewitter: Marcel Reich-Ranicki erhält die Ehrendoktorwürde der Berliner Humboldt-Universität

Am 10. März 1938 schrieb Marceli Reich an die Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin: „Ich bitte um Aufnahme als ordentlicher Student an die philosophische Fakultät.“ Der jüdische Junge aus Polen, der seit 1929 in Berlin zur Schule ging, hatte den illusorischen Wunsch, Literatur zu studieren. Die Universität lehnte ab, trotz der polnischen Staatsangehörigkeit des Abiturienten: Auf seinem Antrag ist ein „jüd.“ gekritzelt sowie der Zusatz „Abgel. 7. 4. 38 von der Reichszentralstelle im Ministerium“.

69 Jahre später ist Marcel Reich-Ranicki hochwillkommen an der Universität, die ihn einst ablehnte. Gestern erhielt der Literaturkritiker den Ehrendoktortitel der Humboldt-Universität. Um Wiedergutmachung konnte es im gut gefüllten Audimax nicht gehen, sondern es galt, die Leistung des Großkritikers für die deutsche Literatur zu würdigen. Dass es dabei nicht bei einer akademischen Feierstunde bleiben würde, war klar. Die Zahl der anwesenden Feuilletonisten und Verlagsleute dürfte die der Studenten beträchtlich übertroffen haben. Vor Fernsehkameras feiert der Literaturbetrieb seine alten Heroen. Doch auch die Objekte von Reich-Ranickis Leidenschaft wollten dabei sein: Neben Maxim Biller sind auch auch Günter de Bruyn und Nobelpreisträger Imre Kertész gekommen; der einstige Wehrmachtssoldat de Bruyn und der Holocaust-Überlebende Kertész sitzen im Jahr 2007 in einem Saal.

Nicht frei von Symbolik auch die Auswahl des Laudators: Der Altgermanist Peter Wapnewski spielte darauf an, als er, Jahrgang 1922, daran erinnerte, dass er als Soldat 1943 die Zulassung zum Studium an dieser Universität erhalten hatte. Es ist eine Stunde „alter Herren“ (Wapnewski), leicht und versöhnlich gestimmt, die Schwere der Vergangenheit taucht nur dann und wann auf. Wapnewski, der übrigens damals wohl unwissentlich als NSDAP-Mitglied geführt wurde, stimmt vom Katheder ein eindrucksvolles Hohelied mit ironischen Sequenzen auf den 1920 geborenen Reich-Ranicki an, den „Magier des Subjektiven“. Die „Fehlbarkeit des Subjektivismus“ sei nicht „Bürde, sondern Privileg des Kritikers“, und die „Schlichtheit im Grundsätzlichen“ sei glücklicherweise in Reich-Ranickis „Primat der Kunst vor dem Leben“ stets zu finden – wohlige Worte, die die polemische Natur des zu Ehrenden in anlassgemäß mildes Licht tauchten.

Dass diese Elegie im Blitzlichtgewitter nicht pathetisch werden konnte, dafür sorgte Reich-Ranicki in seinen Dankesbemerkungen selber. Natürlich freue er sich über seinen mittlerweile neunten Ehrendoktor und vor allem über die bislang kenntnisreichsten akademischen Würdigungen seines kritischen Werks, die er jemals vernommen habe. Doch der autobiografische Anlass, die Nichtzulassung zum Studium, sei unbedeutend: „Wo Millionen umkamen, ist eine Ablehnung beinahe eine Lappalie.“ Für ihn sei es eine Würdigung seiner Sache, der Kritik.

Die Rolle der Literaturkritik für die Entwicklung der deutschen Literatur nach 1945 lässt sich kaum überschätzen. Lange kann man darüber nachgrübeln, welche Wege Schriftsteller hierzulande genommen hätten, wenn sie nicht unter den Argusaugen der Großkritiker Reich-Ranicki, Hans Mayer, Joachim Kaiser, Walter Jens, Fritz J. Raddatz geschrieben hätten. Wären sie freier und moderner geworden? Einfach fallen Antworten jedenfalls nicht aus. Das Schmiermittel namens Nähe, das den Literaturbetrieb trotz aller innig gepflegten Feindschaften kennzeichnet, dürfte zugleich erstickend und befördernd wirken. Dass ein vom Nationalsozialismus mit dem Tod bedrohtes Opfer wie Marcel Reich-Ranicki in seinem späteren Leben durchaus machtvoll im Bereich der Literatur herrschen konnte, gehört zu den glücklichen Ironien der bundesrepublikanischen Kulturgeschichte.

Wie sehr auch immer man sich über der täglichen Show geschuldete Simplifizierungen und brachiale Vereinfachungen aufregen mag: Dass die Literatur sich im harten Konkurrenzkampf um Zeitkapazitäten und gesellschaftliche Aufmerksamkeit hierzulande gar nicht mal so schlecht behaupten konnte, liegt auch an der Literaturkritik und ihren Dinosauriern.

ALEXANDER CAMMANN