: Karneval im Armengewand
Berlin spielt dieses Jahr zum ersten Mal am Ku’damm Karneval. Zwar kommen mehr als eine Million Besucher. Aber die richtige Kamellenstimmung will nicht aufkommen: kein Geld, kein Frohsinn, nur zaghaftes Schunkeln und aggressive Bonbonjagd
VON NINA APIN
Gleich elf Uhr elf. Zugmarschall Rolf Vieting rückt die Narrenkappe zurecht und wirft einen Blick in die Menge, die sich entlang dem Ku’damm aufgereiht hat. Es sind dichte Reihen, viele freundliche Gesichter. Die Kinder tragen aufwändige Kostüme, bei den Erwachsenen hat es nur hier und da zu einer roten Nase oder einem Biene-Maja-Anzug gereicht. Vieting ist trotzdem zufrieden. „Der Berliner Karneval macht sich gut!“, brüllt er über die einsetzende Musik aus den Lautsprecherboxen hinweg.
Vom Wagen aus ist schwer zu schätzen, ob es mehr Jecken sind als Unter den Linden, wo der Karneval die letzten Jahre entlangzog. Die Veranstalter hofften wohl, dass sich in der Rummelplatzatmosphäre des Ku’damms die Karnevalslaune der Berliner erst so richtig entfalten werde. Doch auch zwischen Café Kranzler und KaDeWe bleibt der Garde-Pomp ein trauriger Abklatsch des Originals.
Die 17 uniformierten Damen und Herren der Stadtgarde Rot-Gold nehmen Aufstellung an den Seiten des Wagens, die Süßigkeiten liegen in Griffnähe bereit, hinter dem Wagen straffen sich die Mariechen für den Paradeschritt. Noch ein Kölsch von einem Mann im Kaplanskostüm, dann setzt sich der Wagen „Prinz 1 – Berliner Dreigestirn“ mit einem dreifachen „Berlin-Hei-Jo!“ in Bewegung. Er ist der erste im Zug und das Publikum am Straßenrand ist noch etwas ungeübt. Hei-Jo stehe für „Heiterkeit und Jokus“, erklärt der Karnevalspräsident dem Volk. Damit auch Nichtlateiner begreifen, worum es geht, schreit er: „Karneval an der Spree – olé, olé, olé!“
Vizepräsident Detlef Martin ist in vollem Einsatz: Er winkt und wirft Bonbons, buntes Popcorn und ganze Schokoladentafeln. Nicht ziellos werfen, sondern den Leuten in die Augen sehen; und nicht auf die Regenschirme zielen, damit begünstige man die Gierigen, erklärt er die hohe Kunst des Kamellenwerfens. Seit sechs Jahren ist der gebürtige Berliner Karnevalist. Ein Widerspruch sei das nicht, findet er. „Karnevalsvereine haben hier schon seit 22 Jahren Tradition.“ Martin genießt den Zusammenhalt in der Garde, die Ausflüge, Sitzungen und monatlichen Treffen. Der ritualisierte Karneval rheinischer Prägung sei eine Kultur, die in Berlin jedes Jahr größere Akzeptanz erfahre, wie er beobachtet: „So fremd ist gute Laune den Berlinern nun auch wieder nicht.“.
Das Liedgut allerdings, das über den Ku’damm dröhnt, ist der Berliner Zunge doch reichlich fremd: „Denn mer sin kölsche Mädcher / han Spetzebötzjer aan / Mer lossen uns nit dran fummele / mer lossen keiner dran“. Um diese Zeilen textsicher mitsingen zu können, musste Martin mit seiner Garde so manchen Lehrausflug ins Rheinland unternehmen. „Wenn man’s erst mal verstanden hat, lernt man es ganz schnell“, findet die blonde Inge, die als „Musketier“ mit Federhut lauthals mitsingt. Nach 39 Jahren aktivem Karnevalismus wirkt sie so authentisch rheinländisch, dass sie letztes Jahr zur Karnevalsprinzessin gekürt wurde. Auch ihr Mann ist in der Garde, er schunkelt gerade zu „Lass mich heute Nacht dein Knutschbär sein“.
So ganz will sich der rheinische Frohsinn aber nicht auf die Menschenmenge am Ku’damm übertragen. Die „Olé“-Rufe klingen irgendwie nach Hertha, und wie sich Kinder und Erwachsene gegenseitig die Kamellen wegschnappen, hat etwas Aggressives. „Los, fang!“, feuert ein Vater im Piratenlook seinen Jungen auf, der nur eine Augenklappe trägt. Es hat nichts Unbeschwertes, wie die beiden riesige Plastiktüten mit Gratis-Süßigkeiten vollstopfen. Das Piratenoutfit entpuppt sich bei näherer Betrachtung als authentische Kiez-Alltagskleidung.
„Etwas mager“, findet ein unverkleidetes älteres Berliner Ehepaar den Umzug. Die Verkleidungen halbherzig, die gute Laune verhalten, die Wagen nur dürftig geschmückt. Als mögliche Ursache nennen sie ethnologische Gründe: „Der Berliner als solcher ist immer gern da, wo was los ist. Aber für den Karneval fehlt ihm die Albernheit.“ Und es fehlt das Geld, könnte man denken, wenn man die sparsam geschmückten Lastwagen vorbeifahren sieht. „36 Jahre feiern, nur Politiker bringen uns zum Reihern“ – die Slogans können mit der politischen Schärfe des rheinischen Originals nicht mithalten.
Eine junge Frau fängt für ihre beiden Kleinkinder Bonbons. Seit zwei Jahren geht sie zum Umzug – der Kinder wegen. Sie stammt aus Havanna und findet den Karneval lahm: „Es ist nicht bunt genug und niemand singt.“ Das finden auch zwei Damen mit Schlapphüten und Herzchen auf den Wangen. „Schauen Sie mal, wie traurig die Jecken kucken!“, empört sich die eine, sie stammt aus dem Rheinland. „Es wird ja“, beruhigt sie ihre Berliner Freundin. „Wir lernen das noch.“
Wenn die Lieder stimmen, gibt es durchaus vielversprechende Ansätze auf der Straße. Bei „Fiesta Mexicana“ schunkeln sogar zwei Jungs in Hiphop-Klamotten mit, die obercool an einer Häuserecke lehnen. „Mir macht das richtig Spaß“, sagt der eine. Nächstes Jahr wird man das vielleicht sogar merken.