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Archiv-Artikel

Wenn Hühner nicht sind, was sie scheinen

KUNST Ein Austauschprogramm brachte den Mexikaner Francisco Montoya Cázarez zum Kunststudium nach Braunschweig. Aus der Ferne beleuchtet er die gewalttätige Gegenwart seines Heimatlandes

Was verschlägt einen jungen Mexikaner nach Braunschweig? Die Kunst. Im Falle von Francisco Montoya Cázarez, 1985 geboren, war es ein Austauschprogramm seiner Heimathochschule La Esmeralda in Mexiko-Stadt mit der HbK Braunschweig. Seit 2007 studiert Montoya nun freie Kunst im Niedersächsischen, im Oktober dieses Jahres wird er sein Meisterschuljahr bei Candice Breitz abschließen.

Bei ihr hat er sich auch mit Neuen Medien beschäftigt: Ein Video aus Internet-Material, das einen mexikanischen Kriminellen porträtiert, der sich selbst und seine Verbindungsmänner vorstellt, ohne dass sein Delikt zur Sprache kommt, zeigt zurzeit der Wolfsburger Kunstverein in seinem „Raum für Freunde“.

Überhaupt durchziehen die Themen Gewalt, Kriminalität und Korruption Montoyas Kunst. Und da kann er, zumal aus der Ferne, auf reichlich Material zurückgreifen: Wie in anderen lateinamerikanischen Ländern auch tobt im 112-Millionen-Einwohner-Land Mexiko ein Drogenkrieg, der bislang mindestens 30.000 Todesopfer gefordert hat. Aber Montoya geht nicht vordergründig an diesen Gegenstand heran: Alles wird rätselhaft chiffriert durch eine Folie des Kunstsinnigen, ja auch der bunten Folklore, die Europäer so gerne mit Mexiko assoziieren.

Seine feinen Tuschebilder beispielsweise bevölkern harmlose Tiere – Hühner, Ziegen, Papageien. Bloß stehe das „Huhn“ im mexikanischen Sprachgebrauch für Marihuana, sagt Montoya, der „Papagei“ für Kokain und die „Ziege“ bedeute Heroin.

Auch sucht er den heroischen „Corrido“ in seinen Bildkompositionen einzufangen. Diese populäre Musikform der Volksballade hat es zu einem einschlägigen Subgenre gebracht, dem „Narcocorrido“ mit seinen offen Gewalt und Drogen verherrlichenden Inhalten. Wenn Montoya da den Präsidenten, die Gesetzeshüter der Geheimpolizei AFI, Musiker und Tiere zusammen auftreten lässt, dann geht es um nichts anderes als die korrupten Allianzen von Staat und Drogenmafia.

Im Gespräch über seine Arbeiten wirkt Montoya ruhig und offen. Kaum zu überhören ist aber eine tiefe Wehmut über die Zustände seines Landes. Für eine Videoarbeit stellte er sich abends vor dem Berliner Bundeskanzleramt in den Herbstregen. Zur Gitarre bringt er Kanzlerin Angela Merkel eine „Serenata“: 200 Jahre Unabhängigkeit Mexikos, 100 Jahre mexikanische Revolution – beides scheint die deutsche Politik so wenig wahrzunehmen wie den aktuellen Tremor der Mexikaner zwischen Nationalstolz, Leid und fatalistischem Galgenhumor. Montoyas Werben um die Gunst der Angebeteten läuft also geradezu herzergreifend ins Leere.

Im Kunstverein Braunschweig, der Francisco Montoya derzeit die Remise für seine erste institutionelle Einzelausstellung überlässt, ist auch eine neue Version seines „Monumentes der Revolution“ installiert: Das stattliche Nationalsymbol, den durch revolutionäre Wirren nie vollendeten Regierungspalast, überführt er in verkleinertem Maßstab in ein lockere Laube aus Lattenwerk, windschiefen Bögen und offener Kuppel. Bevölkert wird es von einem Paar stoisch scharrender – Hühner.

Was bleibt nach solcher Fundamentalkritik eigentlich noch zu fragen? Vielleicht, ob Montoya im kalten Norddeutschland denn keine Sehnsucht nach seiner Heimat habe, ob er nicht irgendwann wieder zurück möchte? „Ja, natürlich“, sagt er ohne zu zögern. „Aber ich weiß nicht, wann.“ BETTINA MARIA BROSOWSKY

Francisco Montoya Cázarez: „Hundert Jahre Karneval“, bis 22. Mai, Kunstverein Braunschweig