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Archiv-Artikel

Fünf Herren mit 17

Der Akademie der Künste war Günter Grass’ Waffen-SS-Bekenntnis Anlass, um in geladener Runde nach Jugendsünden zu fragen. Doch dort erinnerte man nur Anekdoten, nicht Konflikte oder Ambivalenzen

Nur die Laufmasche, die sich vom Moderatorinnenknie abwärts bewegte, irritierte die Sabine-Christiansen-Aura des Abends. Die Berliner Akademie der Künste lud am Montag zum sogenannten Akademie-Gespräch ein, einer losen Veranstaltungsreihe, mit der die Institution unter ihrem bekanntermaßen interventionsfreudigen Präsidenten Klaus Staeck auf öffentliche Debatten aktuell reagieren möchte. Drei Monate nachdem Akademiemitglied Günter Grass der Nation seine im Frühjahr 1945 ausgezogene SS-Uniform präsentiert hatte, gab es nun arg verspäteten Erinnerungstalk im vollen Saal des alten Westberliner Stammhauses am Hanseatenweg.

„Mit 17. Erinnern oder Vergessen“ lautete der Veranstaltungstitel, der auf das Alter anspielte, in dem Grass bei der Waffen-SS war. Der Schriftsteller war von Staeck angefragt worden, hatte jedoch keine Lust, seinen Fall hier öffentlich zu diskutieren. Also machte sich die einstige Stern-Reporterin, Fernsehmoderatorin und Bestsellerautorin Wibke Bruhns ohne ihn auf die Suche nach einer Metaebene der Debatte und fragte fünf Herren unterschiedlichen Alters nach ihrer Jugend und ihren Prägungen. Die autobiografischen Antworten fielen erwartbar unterschiedlich und zudem anekdotisch aus – was den intellektuell-moralischen Mehrwert für die Grass-Nachbereitung schmälerte.

Der in Paris lebende Filmemacher und Autor Georg Stefan Troller, 1921 in Wien geborener Jude, der 1938 nach dem sogenannten Anschluss Österreichs emigrieren musste, schaute launig auf jugendliche „Jack-London-Abenteuer“ von Bedrohung, Flucht und Exil zurück. Das jüdische Überleben sei durch eine groteske Parallele gekennzeichnet: Die Vernichtung vor Augen, konnte man die Vernichter als auf absurde Weise humorfreie Gestalten kaum ernst nehmen. Entstanden sei als Technik der Notwehr eine spezielle Einfühlungsgabe, damit man stets wisse, was in den Hirnen dieser Verrückten vorgehe. An Erlösung jedenfalls hätte man zeitlebens nicht mehr glauben können.

An den gläubigen Jungkommunisten und dessen „rote Pfadfindermentalität“ konnte sich der 1943 in Budapest geborene Autor György Dalos erinnern. 1968 wurde er glücklicherweise aus der ungarischen KP ausgeschlossen, was ihm dann dialektisch zur inneren Freiheit verhalf. Da die deutsche Grass-Debatte des Sommers mit all ihren Verästelungen viele skurrile Züge trug, durfte offenbar in dieser Talkshow ein Komödiant nicht fehlen: Wladimir Kaminer, Jahrgang 1967 und seit 1990 in Deutschland lebend, erzählte jüdische Witze und brachte mit seinen Geschichten aus der Sowjetunion der Breschnew-Zeit das Publikum wie immer zum Lachen. Die „literarische Allzweckwaffe mit großer Reichweite“ (Bruhns) war jedenfalls um eine ziemlich russische Antwort auf die Frage nach der individuellen Verantwortung für die Gesellschaft nicht verlegen: Die hätte man nur vor Gott und der Familie; „alles andere ergibt sich“.

So stocherte man unterhaltsam und zugleich ziellos im autobiografischen Material herum. Dabei spielten die zwei Protestanten auf dem Podium den ernsthaften Part. Der in Bitterfeld aufgewachsene Hausherr Staeck berichtete von seiner Jugend in der DDR, aus deren Zwängen er sich als 18-Jähriger 1956 in den Westen aufmachte. „Ich kann leider nicht verdrängen“, so Staeck, was von dem Aufklärer Staeck ja auch niemand erwartet hätte. Sein Vater, in allen Systemen eigentlich eher angepasst, sei dennoch später in der Bundesrepublik immer stolz auf ihn gewesen: „Gib’s ihnen!“, habe Vater Staeck ihm immer zugerufen, wenn der linke Sohn sich in Plakataktionen mit konservativen Autoritäten anlegte. Ein jugendlicher Außenseiter war auch der 1944 geborene Friedrich Schorlemmer. Schiller statt Karl May, Nabucco statt Schlager: Solche bildungsbürgerliche Abweichung erzeugte in den Fünfzigerjahren Ausgrenzung in der DDR-Provinz, nicht nur das fehlende Blauhemd des Pfarrerssohnes. Zum Trost las Schorlemmer Ortega y Gassets „Aufstand der Massen“ und bekam „Lust am Ernst des Lebens“. Die Teile seiner Familie, die richtige Nazis waren, seien eigentlich die Nettesten gewesen: Diese aufregende Feststellung des ausnahmsweise angenehm uneitlen Schorlemmer wurde leider nicht aufgegriffen. Doch in solch moralisch unsicheres Gelände hätte sich die Diskussion vorwagen müssen, um intellektuelle Spannung zu erzeugen. Denn der geheime Kern der Grass-Debatte bestand ja darin, dass der verblendete junge Grass 1945 jemanden wie seinen heutigen Nobelpreis-Kollegen Imre Kertész wahrscheinlich erschossen hätte. Solche letzten Fragen hatten jedoch bei dieser freundlichen Abendunterhaltung keinen Platz.

ALEXANDER CAMMANN