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Archiv-Artikel

Der Mann mit dem Kanu in New Orleans

WIRBELSTURM Dokumentation einer Katastrophe: Der Schriftsteller Dave Eggers schildert in einem literarischen Tatsachenbericht, was nach „Katrina“ und der großen Flut geschah: „Zeitoun“

VON KATHARINA GRANZIN

Zeitoun“ erzählt eine wahre Geschichte, eine von jenen, die wir so in den Zeitungen nicht zu lesen bekommen. Sie handelt von einer amerikanischen Familie; der Vater aus Syrien stammend, die Mutter eine zum Islam konvertierte geborene Südstaatlerin, vier Kinder. Aufgeschrieben wurde sie von dem umtriebigen Autor und Verleger Dave Eggers, der unter anderem ein breit angelegtes Oral-History-Projekt betreibt.

Bereits mit dem dokumentarischen Roman „Weit gegangen“ über einen Flüchtling aus dem Sudan hatte Eggers vor einigen Jahren für Furore gesorgt. „Zeitoun“ dreht die dokumentarische Schraube noch ein Stück weiter und verzichtet auf fiktionalisierte Einsprengsel fast gänzlich. Das Buch ist im Grunde gar kein Roman mehr, sondern literarischer Tatsachenbericht. Er handelt von Dingen, die sich in der Stadt New Orleans abspielten, nachdem der Wirbelsturm „Katrina“ im Jahr 2005 über sie hinweggefegt war und die Deiche zum Einsturz gebracht hatte. Und er erzählt davon in einem absolut sachlichen, gelassenen Duktus, der teilweise in eklatantem Gegensatz zum Erzählten steht.

Zeitoun ist der Familienname und gleichzeitig allgemeiner Rufname der Hauptperson, des Familienvaters, dessen Vornamen Abdulrahman nur die wenigsten Bekannten aussprechen können. Er ist Handwerker, ein gestandener Mann, der es gewohnt ist, Schwierigkeiten anzupacken. Als New Orleans vor der großen Flut evakuiert wird und auch seine Frau mit den Kindern die Stadt verlässt, weigert er sich, mit ihnen zu fahren. Er will bleiben und auf seine Baustellen und Immobilien aufpassen. Nachdem das Wasser gekommen ist, fährt er mit einem Kanu durch die Straßen seines Viertels. Zunächst kann er noch etlichen Menschen helfen, auch verlassene Tiere füttern, die in den überschwemmten Gebäuden zurückgeblieben sind. Doch das Bleiben wird immer gefährlicher; denn nicht nur bewaffnete Plünderer machen die Stadt zusätzlich unsicher. Auch die Nerven der Ordnungshüter liegen blank.

In der ersten Woche kann Zeitoun noch täglich bei seiner Frau Kathy anrufen, denn in einem Mietshaus, das ihnen gehört, funktioniert tatsächlich der Festnetzanschluss. Doch plötzlich, ohne Vorankündigung, hören die Anrufe auf. Von Zeitoun gibt es fortan kein Lebenszeichen mehr. Tagelang lebt Kathy in einem Zustand der Panik, sie beginnt sich Gedanken darüber zu machen, wie sie mit den vier Kindern allein weiterleben soll, falls ihr Mann tot ist.

Auch wenn Eggers’ Buch kein Roman ist, verfügt es doch über einen solide aufgebauten Spannungsbogen. In einem Interview für den britischen Guardian bat Eggers die Journalistin explizit darum, in ihrem Artikel nicht schon die gesamte Handlung zu verraten. Er vermeidet jedes anklagende Pathos, auch wenn es einen immer wieder erschaudern lässt bei seinen Schilderungen des Chaos und angesichts der grotesken Unfähigkeit der Behörden, den Menschen konkrete Hilfe zu leisten. Gleichzeitig werden irrwitzige logistische Anstrengungen unternommen, um ein provisorisches Freiluftgefängnis zu bauen, in dem wegen Plünderns Verhaftete festgehalten werden, ohne Anklage und ohne die Möglichkeit, jemandem ihren Aufenthaltsort mitzuteilen.

Seine Hauptfigur charakterisiert Eggers eher indirekt, wahrt respektvoll den Abstand zur realen Person Zeitoun, teilt dessen Gedanken und Gefühle auf eine Art mit, die merken lässt, dass er an inneren Vorgängen lediglich das wiedergibt, was sein Gesprächspartner auch preisgegeben hat. Durch Erzählungen aus der Vergangenheit und der Familiengeschichte gewinnt die Figur an Tiefe und wird zum Charakter, ohne dabei ihr Geheimnis zu verlieren.

Zeitoun selbst war es, der darauf bestanden hatte, dass seine Geschichte genauso erzählt werden sollte, wie sie sich zugetragen hatte. Auf keinen Fall sollte Eggers Pseudonyme verwenden, um ihn und seine Familie zu schützen. Dass die Zeitouns Muslime sind, spielt für die Handlung durchaus eine Rolle, wenngleich nicht die Hauptrolle. Dass die Familie in den Wirren der Katastrophe zeitweilig sogar ins Visier der Al-Qaida-Jäger des Heimatschutzministeriums gerät, ist empörend, aber nicht zentral.

Eggers’ Bericht ist ein beherrschtes, daher umso eindrücklicheres Dokument behördlicher Unfähigkeit und staatlichen Verfolgungswahns angesichts einer Naturkatastrophe. Der Lektüre folgt die Erleichterung darüber, dass die paranoide Bush-Ära mittlerweile Vergangenheit ist. Doch die verstörende Einsicht, wie leicht auch in einer Demokratie selbstverständliche bürgerliche Rechte außer Kraft gesetzt werden können, lässt sich nicht ebenso leicht als historisch erledigt abschütteln. Gruselig.

Dave Eggers: „Zeitoun“. Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2011. 336 Seiten, 19,95 Euro