Der ehrlose, tapfere Bäcker

Der Kriegsfilm als Kammerspiel: Mit „Letters from Iwo Jima“, dem zweiten Teil seines Doppelfilm-Projekts, reicht Clint Eastwood die japanische Sicht auf die Endphase des Zweiten Weltkriegs nach

Wie erinnert man an einen Krieg? Sieger und Besiegte der Schlacht um Iwo Jima, die auf den Tag genau heute vor 62 Jahren im Südpazifik wütete, haben ihre je eigenen Strategien gefunden, von den Ereignissen zu erzählen. Die amerikanische Öffentlichkeit bekam ihren Sieg vor allem in Form der Rosenthal-Fotografie vom Hissen der Flagge auf Mount Suribachi präsentiert. Davon, wie diese Aufnahme und ihre Protagonisten durch den Propagandawillen der US-Regierung zur nationalen Ikone stilisiert und millionenfach reproduziert wurde, handelte Clint Eastwoods „Flags of our Fathers“.

An die Niederlage der kaiserlichen japanischen Armee mahnt heute kein Foto, sondern ein Denkmal aus schwarzem Stein auf der Insel selbst, deren geweihter Boden nur mit Ausnahmegenehmigung aus Tokio betreten werden darf. Vergraben in deren kargen Vulkanerde fand man dort Jahrzehnte nach der Schlacht hunderte von Briefen junger japanischer Soldaten, die die Insel nicht mehr verlassen konnten. Angeleitet durch diese Schriftstücke, reicht Eastwood in „Letters from Iwo Jima“, dem zweiten Teil seines Doppelfilm-Projekts, nun die japanische Sicht auf die Endphase des Zweiten Weltkriegs nach.

Die Intimität, die persönliche Perspektive seines Ausgangsmaterials bestimmen auch den Ton des Films. Anhand der Schicksale von unterschiedlichen Figuren, deren Wege sich auf der Insel kreuzen und wieder trennen, entsteht eine vielschichtige Innenansicht einer Situation, in der den meisten Beteiligten klar war, dass sie auf verlorenem Posten stehen. Auch der oberste Soldat und Befehlshaber vor Ort, General Tadamichi Kuribayashi (Ken Watanabe), macht sich keinerlei Illusionen über die Überlebenschancen von 20.000 japanischen Soldaten gegen eine rund fünfmal so große amerikanische Streitkraft, die technisch wesentlich besser ausgestattet war. Kuribayashi weiß, was er zu erwarten hat, weil er seinen Feind als Freund kennenlernen durfte. In Rückblenden erzählt der Film von der Vorkriegszeit und seinen ausgiebigen Reisen durch die USA, wo der General in den höchsten Kreisen verkehrte.

Auf Iwo Jima droht ihm deshalb der Unmut seines Stabs, die ihm Sympathien für den Feind unterstellen und mehr als einmal seine Befehle zu sabotieren versuchen. In Kuribayashi porträtiert Eastwood Japan als Land zwischen Tradition und Moderne. Unerschütterlich in seiner Loyalität gegenüber dem Jahrtausende alten Kaiserreich, ist der General dennoch rationaler Stratege genug, mit Militärtraditionen zu brechen und die Verteidigungsanlagen nicht am Strand aufzubauen, sondern seine Soldaten in kilometerlangen, in den Vulkanfels getriebenen Stollen unterzubringen. Jeder dieser Posten musste von den Angreifern einzeln erobert werden. So konnten die Verteidiger, trotz tagelanger Bombardements durch die U.S. Air Force, wesentlich länger standhalten, als erwartet wurde.

Am unteren Ende der Befehlshierarchie steht Saigo (Kazunari Ninomiya), ein Bäcker, der ohne rechte Begeisterung zwangsweise einberufen wurde. Durch seine Geschichte bekommt „Letters“ etwas von einem Schelmenroman. Rund ein Dutzend Mal entkommt er dem sicheren Tod, der ihm von allen Seiten droht – nicht nur durch amerikanische Maschinengewehre, sondern genau so durch sadistische Vorgesetzte. Dennoch bleibt er angesichts des Verderbens um ihn herum selbstsicher: Er hat schließlich seinem ungeborenen Kind versprochen, um jeden Preis am Leben zu bleiben und heimzukehren. Das unterscheidet ihn von seinen Kameraden in den kaiserlichen Truppen, deren Ehrenkodex vorschreibt, eher kollektiv Selbstmord zu begehen, als sich strategisch zurückzuziehen.

Als Bericht über eine der verlustreichsten und blutigsten Schlachten des Zweiten Weltkrieges ist „Letters from Iwo Jima“ überraschend zurückhaltend in seiner Darstellung. Zwar sieht man auch hier abgetrennte Gliedmaßen, brennende und durch die Luft geschleuderte Körper – Bilder, die seit Spielbergs „Der Soldat James Ryan“ gewissermaßen zu den Standards der Kriegserzählung gehören –, über weite Strecken entfaltet sich das Geschehen jedoch in den Höhlen, in denen die Soldaten gekauert zusammenhocken und die Luftangriffe über sich ergehen lassen, ohne genau zu wissen, wie viele Gegner sie da draußen eigentlich erwarten. Der Kriegsfilm als Kammerspiel. Natürlich kann Eastwood, trotz des Perspektivwechsels, letztlich nicht die ganze Wahrheit solch eines Ereignisses erzählen, auch nicht in der epischen Länge von 140 Minuten. Aber als Versuch kommen „Flags of our Fathers“ und „Letters from Iwo Jima“ diesem Vorhaben wohl so nahe wie kein anderes Filmprojekt zuvor.

DIETMAR KAMMERER

„Letters from Iwo Jima“. Regie: Clint Eastwood. Mit Ken Watanabe, Kazunari Ninomiya u. a. USA 2006, 140 Min.