Machen, wonach der Sinn steht

ROCKLEGENDE Keimzeit waren die Grateful Dead des Ostens. Nie offiziell vom DDR-Kulturbetrieb anerkannt, aber Kult. Jetzt haben sie mit dem Deutschen Filmorchester Babelsberg 15 alte Songs neu aufgenommen

VON THOMAS WINKLER

Norbert Leisegang hat kein Handy. Sonst könnte man ihn jetzt anrufen. Ihn fragen, wo er bleibt. Warum man hier allein in der Sonne sitzt, die auf Potsdam und den Platz der Freiheit scheint. Warum er die Fragen, die man sich ausgedacht hat, nicht beantwortet. Die Fragen über seine Band Keimzeit, ihr neues Album, das sie mit dem Filmorchester Babelsberg eingespielt hat, und natürlich über die Vergangenheit, die im Falle von Keimzeit schon mehr als drei Jahrzehnte dauert. Fragen über die zahlreichen Höhen und die noch zahlreicheren Tiefen, über ostdeutsche Identität und gesamtdeutschen Erfolg. Viele Fragen. Aber Norbert Leisegang hat kein Handy.

Ein paar Stunden und einige Telefonate übers Eck später, die Sonne ist schon untergegangen, sind die Fragen doch noch beantwortet worden. In einem Selbstbedienungscafé im Hauptbahnhof, aber immerhin. Leisegang ist aufgetaucht, er hat um Entschuldigung gebeten, dass er den Termin vergessen hat. Und dann hat er auf die Frage, ob seine Band vielleicht auch das eine oder andere Mal in all den Jahren am falschen Ort zur richtigen Zeit gewesen ist, geantwortet: „Erfolg ist nur sehr schwer fassbar für mich. Das ist ein Maßstab wie Kaugummi. Es ist doch schon ein großer Erfolg, dass Keimzeit so lange überlebt haben.“

In der Tat. 1980 in Lütte bei Belzig gründen die vier Geschwister Leisegang eine Band. Sie nennen sich erst Jogger, zwei Jahre später Keimzeit, beginnen auf Familienfesten. Mit einem schier unerschöpflichen Vorrat an Pop-Klassikern, mit Konzerten, die schon mal drei, vier Stunden dauern können, und naiver Spielfreude finden sie schnell ein treues Publikum. Keimzeit werden nie offiziell vom DDR-Kulturbetrieb anerkannt, aber Kult. Die Grateful Dead des Ostens haben Fans, die ihnen hinterherreisen.

Nach der Wende gelingt der schmerzhafte Umbruch, man verabschiedet sich von den Coverversionen, setzt auf eigenes Material, wird eine etwas gewöhnlichere Band, verliert viele alte Anhänger und findet neue, auch im Westen. Man verkauft ein paar Tausend Stück von jeder neuen Platte, spielt nicht mehr ganz so viele Konzerte wir früher, dafür in größeren Hallen, zuletzt sogar in Norwegen, und hat sein Auskommen. Man kann vor allem, so formuliert es Leisegang, zurückblicken und feststellen, „dass wir immer nur das gemacht haben, wonach uns der Sinn stand – auch wenn uns das nicht immer gut bekommen ist.“

Mittlerweile spielen mit Norbert und Bassist Hartmut nur noch zwei Leisegangs in der sechsköpfigen Band. Schwester Marion ist schon in den Neunzigerjahren ausgestiegen, der dritte Bruder, Schlagzeuger Roland, erst vor anderthalb Jahren zugunsten eines Jobs als Geschäftsführers. Man lebt verstreut in Potsdam, Berlin oder immer noch in Belzig, und alle reden noch miteinander. Wenn das mal keine Erfolgsgeschichte ist.

In dieser Geschichte wird nun ein neues Kapitel aufgeschlagen. Für ihr Album „Zusammen“ haben Keimzeit mit dem Deutschen Filmorchester Babelsberg, mit dem sie seit 2010 immer mal wieder aufgetreten sind, 15 alte Keimzeit-Songs neu aufgenommen. Für das Filmorchester, das schon mit Céline Dion, Sting, Rammstein und bei den Aufnahmen für das „Stadtaffe“-Album von Peter Fox reichlich Erfahrung im Pop sammeln konnte, ist der Crossover kein Neuland. Für Keimzeit schon.

Man könnte jetzt sagen, dass Keimzeit alt genug geworden sind, ihr Schaffen mit Hilfe eines Orchesters in den Klassikstatus erheben zu können. Norbert Leisegang möchte das lieber nicht. Für ihn war das erst einmal „eine neue Erfahrung und damit eine Bereicherung“. Aber natürlich müsse man sich immer eine Frage stellen: „Ist so eine Zusammenarbeit fruchtbar – oder wird da nur etwas aufgeblasen?“

Aufgeblasen zu werden, zum üblichen „Rock meets Classic“-Schmonz kandiert zu werden, das hätten wohl besonders die Songs von Keimzeit nicht gut vertragen. Schließlich sind die eher zart, vorsichtig hingetupft und versponnen. Das gilt nicht nur für Norbert Leisegangs eher kryptische Texte, sondern auch für die Musik. Keine Melodien, die aus dem Radio herausbrüllen, keine Rhythmen, die Boxen erzittern lassen. Stattdessen ein Bandsound, der in jedem Song das Wort Understatement zu buchstabieren scheint, während Leisegang so singt, wie er heißt. Oder eben wie eine Figur aus einem seiner Songs, wie einer, der immer „auf der Suche nach einer Liebe“ zu sein scheint, „die es nicht gibt“.

Es sind Songs, die große Worte wagen, wenn es um wenig geht, und sich in Lakonie üben, wenn die Gefühle überhand nehmen. Songs, die Humor haben, aber einen sehr empfindlichen. „Jeder für sich ist längst verlor‘n, deine blasse Haut ist der Beweis“, singt Leisegang, und man muss es dem Filmorchester und den Arrangeuren hoch anrechnen, dass sie solche Feinheiten nicht in Streichern und Bläsern ertränken. Einzelne Songs wie „Valentinstagsblumen“ haben vielleicht eine Prise zu viel Zucker abbekommen, aber dafür bekommt ein Stück wie „Kling Klang“, der einzige echte, mittlerweile arg abgenudelte Hit der Band, ein neues Leben.

Es gab eine Zeit, da haben Keimzeit „Kling Klang“ gar nicht mehr gespielt, so sehr sich das Publikum das Lied auch lautstark wünschte. Damals, in den frühen Nullerjahren, wollte vor allem Norbert Leisegang nicht nur auf den einen Hit reduziert werden. Er wollte weg vom alten Image. „In dieser Epoche habe ich ordentlich rumgezickt“, erinnert sich der mittlerweile 53-jährige Leisegang, „weil ich dachte, wir würden nicht angemessen wahr genommen.“ Diesen „Zwiespalt“, wie Leisegang ihn nennt, zwischen der Erwartungshaltung des Publikums und der Eigenwahrnehmung, „den gibt es nicht mehr“. Mittlerweile hat er „die eigene Befindlichkeit zurückgestellt“ und einen Weg gefunden, dem Publikum zu geben, was es will, ohne sich gleich zum Dienstleister degradiert zu fühlen. „Aber ich sehe mich immer noch nicht als eine Musikbox meiner selbst.“

Wenn Leisegang von seiner Band spricht, dann sagt er eher selten „wir“, aber sehr oft „Keimzeit“. Als wollte er eine Distanz markieren, als wollte er nicht aufgehen in einem Projekt, das eine ganze Zeit lang von seinen Fans vereinnahmt wurde und als ostalgische Projektionsfläche diente. „Von den Medien und vom Publikum werden wir immer noch sehr stark als ostdeutsche Band wahrgenommen, aber ich habe gemerkt, dass es sinnlos ist, dagegen anzukämpfen“, sagt Leisegang.

Im Alter, man merkt es, findet man zwar vielleicht keine Antworten, aber die Fragen werden weniger. Genauso, nach diesem zwar entspannten, aber nicht erschlafften Zustand, haben die Songs von Norbert Leisegang schon immer geklungen – mit oder ohne Orchester.

■ Keimzeit & Filmorchester Babelsberg sind live beim Klassik Open Air in der Kulturbrauerei zu hören: 15. August, 19.30 Uhr