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Archiv-Artikel

„Die Übergänge sind fließend“

Der Psychiater Wolfram Schumacher-Wandersleb sieht keinen Skandal, wenn ein entlassener Straftäter plötzlich in der Psychiatrie landet. Denn die Kontrollen gegen missbräuchliche Anwendung seien in Deutschland gut ausgeprägt

taz: Herr Schumacher-Wandersleb, in Brandenburg wurde ein entlassener Straftäter in der geschlossenen Psychiatrie untergebracht, weil rechtlich keine Sicherungsverwahrung möglich war. Wird hier nicht die Psychiatrie missbraucht?

Wolfram Schumacher-Wandersleb: Bevor ein Straftäter entlassen wird, der noch als gefährlich gilt, sollte man schon sehr genau hinschauen. Dazu kann auch die Prüfung gehören, ob eine Unterbringung in der Psychiatrie angezeigt ist. Wenn ein solcher Straftäter in Freiheit entlassen wird und alsbald ein neues Sexualdelikt oder gar einen Mord begeht, dann fragt doch jeder: „Warum habt ihr nicht genauer hingeschaut?“

Im Brandenburger Fall war zuvor nie davon die Rede, dass der Mann psychisch krank ist …

Das mag vielleicht von außen erstaunlich wirken. Aber ich kann sehr gut verstehen, dass sich die Verantwortlichen hier absichern. Im Interesse der Bevölkerung halte ich das auch für richtig.

Wer regelt denn, wann jemand zwangspsychiatrisiert werden kann?

Die Voraussetzungen sind in Landesgesetzen geregelt. In Brandenburg ist dies möglich, „wenn und solange durch ihr krankheitsbedingtes Verhalten oder die Auswirkungen ihrer Krankheit eine unmittelbare Gefahr für Leib und Leben anderer Personen oder für die öffentliche Sicherheit besteht“.

Es kommt also darauf an, dass die Person krank ist?

Genau. Die bloße Gefährlichkeit genügt nicht für die Unterbringung in der Psychiatrie.

Das Amtsgericht Brandenburg sieht im angesprochenen Fall Hinweise auf eine „dissoziale Persönlichkeitsstörung“ sowie eine „psychosexuelle Fehlentwicklung“. Sind das anerkannte Krankheiten?

Zumindest die „dissoziale Persönlichkeitsstörung“ ist, laut Weltgesundheitsorganisation WHO, eine Krankheit.

Wie beschreibt die WHO sie?

Es ist eine Persönlichkeitsstörung, die durch eine Missachtung sozialer Verpflichtungen und herzloses Unbeteiligtsein gegenüber den Gefühlen anderer gekennzeichnet ist. Symptome sind eine geringe Frustrationstoleranz und eine niedrige Schwelle für aggressives Verhalten, eine Neigung, andere zu beschuldigen oder vordergründige Rationalisierungen für das Verhalten anzubieten, durch das der Patient in Konflikt mit der Gesellschaft geraten ist.

Warum gilt eine solche Mischung aus Aggressivität und Uneinsichtigkeit als Krankheit? Ist das nicht eher das Produkt von Erziehungsdefiziten?

Das schließt sich nicht aus. Persönlichkeitsstörungen haben oft mit der Sozialisation zu tun. Dissoziale Menschen zum Beispiel haben einfach nichts anderes gelernt, als Konflikte mit Geschrei und Gewalt auszutragen. Das ist für sie die gelernte Normalität.

Auch der Brandenburger Täter wurde als Vergewaltiger verurteilt. Damals war nicht von Krankheit die Rede …

Die Abgrenzung zwischen Kriminalität und dissozialer Persönlichkeitsstörung ist schwierig, die Übergänge sind fließend. Ein Verhalten ist ohne Abstriche zu bestrafen, wenn der Betroffene sich auch hätte anders entscheiden können und sich der Rechtswidrigkeit seines Handelns bewusst ist. Dagegen ist er als vermindert schuldfähig oder schuldunfähig einzustufen, wenn er nicht mehr die Kontrolle über sein eigenes Verhalten hat.

Wie kann es sein, dass jemand als Straftäter verurteilt wird und es zehn Jahre später heißt, er leide unter einer dissozialen Persönlichkeitsstörung?

Ich verstehe, dass Sie da einen Widerspruch sehen. Aber zum einen entwickelt sich die Diagnostik stets weiter, auch in den letzten zehn Jahren. Zum anderen können unterschiedliche Gutachter den gleichen Fall unterschiedlich beurteilen, eben weil die Grenzen fließend sind.

Können dissoziale Menschen in der Psychiatrie landen, noch bevor sie eine Straftat begangen haben?

Ja. Aber dann müssen die Indizien für die unmittelbare Gefährlichkeit schon sehr stark sein. Kaum ein Indiz ist für die Prognose so stark, wie wenn jemand eine bestimmte Tat bereits einmal begangen hat.

Welche Sicherungen gibt es, dass missliebige Personen nicht vorschnell in der Psychiatrie landen? In Diktaturen werden ja Systemkritiker als psychisch krank weggesperrt …

Wir leben hier in einem Rechtsstaat mit vielen Kontrollen. Zunächst muss der einweisende Arzt davon überzeugt sein, dass eine krankheitsbedingte Gefahr besteht, ebenso der aufnehmende Arzt. Dann wird oft noch ein weiteres Sachverständigen-Gutachten erstellt. Die Entscheidung trifft am Ende ein Amtsgericht. Und wenn der Betroffene die Entscheidung für falsch hält, kann er eine Beschwerde beim Landgericht einlegen und den Fall letztlich bis zum Bundesverfassungsgericht bringen. INTERVIEW: CHRISTIAN RATH