: Der neue Übervater der Türken
BEDEUTUNG Kein türkischer Politiker seit Mustafa Kemal „Atatürk“ hat die Türkei so stark geprägt wie Erdogan. Als Präsident würde er den Staatsgründer wohl endgültig vom Sockel stoßen – und sich an seine Stelle setzen
VON DANIEL BAX
BERLIN taz | Der Präsidentenpalast thront auf einem Hügel über der Hauptstadt Ankara. Wenn der türkische Premier Recep Tayyip Erdogan demnächst dort einziehen wird, dann ist das von großer Symbolik. Denn in dieser Villa residierte schon Mustafa Kemal, der erste Präsident der Türkei, der auf den Trümmern des Osmanischen Reichs die heutige Republik begründete und dafür den Ehrentitel Atatürk („Vater der Türken“) bekam.
Seit diesem Übervater, dessen Denkmäler in der Türkei jede Stadt zieren, hat kein Politiker das Land so stark verändert wie Erdogan in jenen zehn Jahren, in denen er als Premier mit absoluter Mehrheit regierte. In den Augen mancher Kritiker verkörpert Erdogan den Sieg des Landes über die Stadt, der konservativ-religiösen Milieus über die säkularen Eliten, der Finsternis über den Fortschritt, kurz: der Reaktion über Atatürk.
Denn Atatürk hatte seinem Land eine radikale Kulturrevolution von oben verordnet. Er verbannte alles allzu Orientalische aus dem öffentlichen Raum, um es zu europäisieren, und führte den westlichen Kalender, den Sonntag als Feiertag und das lateinische Alphabet ein. Selbst der Fez, die Kopfbedeckung der osmanischen Bürger, wurde verboten. Mit eiserner Hand ließ Atatürk aus den Überresten des einstigen Vielvölkerimperiums eine homogene Nation schmieden. Religiöse und ethnische Aufstände, etwa der Kurden, wurden brutal niedergeschlagen. Dieses Erbe prägt die Türkei bis heute. Bürokratie und Elite, aber vor allem die Armee sahen sich stets als Bollwerk gegen Gruppen, die dem Islam in der türkischen Gesellschaft wieder eine größere Rolle einräumen wollten, und gegen die Emanzipationsbestrebungen der Kurden.
Erst in den letzten Jahren ist es Erdogan gelungen, die Armee endgültig zu entmachten. Dazu benutzte er unter anderem das „Ergenekon“-Verfahren gegen ranghohe Militärs, denen vorgeworfen wurde, den Sturz der Regierung betrieben zu haben. Der beispiellose Wirtschaftsaufschwung, den die Türkei in seiner Ära genommen hat, stärkte ihm dabei den Rücken. Der Boom zeigt sich auch weit weg von den Metropolen des Westens, in den zuvor abgehängten Provinzen Zentralanatoliens, am Schwarzen Meer oder im kurdischen Osten, wo Shopping Malls und Universitäten aus dem Boden geschossen sind. Dadurch ist eine muslimisch geprägte Mittelschicht und eine Business-Elite entstanden, die den bisherigen Eliten Konkurrenz macht.
Die Entwicklung der Türkei unter Erdogan ist paradox: Sie ist internationaler und zugleich islamischer geworden, moderner und zugleich traditioneller, pluralistischer und autoritärer. Es gibt Kampagnen gegen häusliche Gewalt und es gibt Gay-Pride-Paraden in Istanbul, aber auch ein neues konservatives, muslimisches Biedermeier und ein zunehmend autoritäres Auftreten Erdogans.
Erdogan hat an vielen Tabus gerüttelt, die die türkische Politik über Jahrzehnte gelähmt haben. Er hat die Aussöhnung mit den Kurden gesucht und, wie er es seiner religiös-konservativen Kernklientel versprochen hatte, die Kopftuchverbote an Universitäten und für den Staatsdienst aufgehoben. Wie es sich für einen Populisten gehört, lässt er sich aber nicht immer in ein klares Rechts-links-Schema einordnen: Er hat die Allianz mit Israel aufgekündigt, aber auch die Annäherung an Armenien gesucht; zum letzten Jahrestag des Genozids im April 2014 sprach er als erster Premier seines Landes den Überlebenden sein Beileid aus.
Vor den Muslimbrüdern in Ägypten hat er für das türkische Modell einer säkularen Verfassung geworben. Aber zu Hause nervt er seine Bürger mit moralischen Appellen, wie viele Kinder sie bekommen und wie sie zu leben haben, und schränkt den Alkoholverkauf ein. Einerseits hat er den nationalistischen Fahnenappell abgeschafft, mit der Schüler jahrzehntelang jeden Morgen ihre Treue zur Nation beschwören mussten. Doch er hat auch die türkischen Medien unter seine Kontrolle gebracht und möchte am liebsten auch YouTube, Facebook und Twitter zensieren.
Die Gezi-Proteste haben die Bruchlinien aufgezeigt, die deswegen zwischen den Generationen und oft durch die Familien verlaufen. Doch seinen Anhängern gefällt, dass Erdogan für sich und sein Land eine klare Vision zu haben scheint und es als regionale Großmacht positionieren will. Und vielen seiner Wähler ist ihr wirtschaftliches Wohlergehen wichtiger als bürgerliche Freiheiten, auf die sie ohnehin keinen Wert legen, weil sie weder Alkohol trinken noch kritische Zeitungen lesen oder im Internet surfen.
Erdogan hat den Kurdenkonflikt entschärft. Er hat die Sprachverbote gelockert und mit PKK-Chef Öcalan verhandelt. Dass der türkische Staatssender TRT nun einen kurdischen TV-Kanal betreibt, war früher absolut undenkbar, ebenso, dass in kurdisch geprägten Städten wie Diyarbakir an öffentlichen Gebäuden zweisprachige Schilder hängen, wie es heute der Fall ist.
Die Kurden könnten jetzt sogar in die Rolle der Königsmacher schlüpfen, wenn Erdogans Partei auch nach Neuwahlen zum Parlament keine nötige Mehrheit für eine neue Verfassung findet. Gegen mehr Autonomie für die kurdischen Regionen und die Herabstufung der Haft von PKK-Chef Abdullah Öcalan in einen simplen Hausarrest könnte die kurdische Partei BDP einer Präsidialverfassung zustimmen, die Erdogan mehr Vollmachten verleihen würde. Dass ausgerechnet konservative Muslime und Kurden, diese beiden lange marginalisierten Gruppen, gemeinsam eine neue Verfassung durchsetzen könnten, gleicht einer Revolution.
Erdogan ist dabei, den Gründervater Atatürk endgültig vom Sockel zu stoßen und der Türkei eine neue Richtung zu geben – weg von Europa, hin zum Erdogan-Staat. Bis 2023, dem hundertsten Geburtstag der Republik, soll der Kurswechsel abgeschlossen sein. Mit seinen gigantischen Bauprojekten will er sich bis dahin ein Denkmal setzen. Dazu zählen eine dritte Autobrücke über den Bosporus, ein neuer Kanal, der parallel zum Bosporus Schwarzes Meer und Marmarameer verbinden soll, der größte Flughafen der Welt in Istanbul und eine Megamoschee, die über den Hügeln von Istanbul thronen soll. Hier, heißt es, könnte er sich eines Tages begraben lassen. Seine Grabstätte würde dann auch Atatürks Mausoleum, das gigantische „Anitkabir“ in Ankara, übertrumpfen.