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Archiv-Artikel

Ein kleines Stück Lebenssinn

VON LUTZ DEBUS

Tobias strahlt über das ganze Gesicht. Seine zierlichen Hände halten die Schlagzeugstöcke umklammert. Um an die golden glänzenden Becken zu kommen, muss sich der achtjährige Junge sehr recken. Fast verrenkt sehen dann seine dünnen Ärmchen aus. Tobias sitzt im Rollstuhl. Von Geburt an ist er gelähmt. Seit knapp einem Jahr hat er Schlagzeugunterricht. Mit harten, exakten Schlägen spielt er einen Rockrhythmus. Bumm-tschack, bumm-tschack. Sein Lehrer spielt dazu auf dem Elektrischen Klavier eine Bluesbegleitung und singt: „Wenn Sorgen Geld wär‘n, wär ich ein reicher Mann. Wenn mein Kummer vorbei ist, fangen erst meine Sorgen an.“

Tobias kichert dazu. Der Text von dem legendären österreichisch-türkisch-griechisch-englischem Sänger Alexis Korner gefällt dem Jungen sehr. Obwohl er zu Hause am liebsten Mozart hört, genießt er es, hier im Keller der Musikschule Herne richtig abzurocken. Das Stück ist für ihn der Höhepunkt des 30-minütigen Unterrichts. Den Rest der Zeit muss er verschiedene Rhythmen üben. Sein Lehrer, Christian Krause, nimmt es da sehr genau. „Da bist du durcheinander gekommen.“ Dabei lächelt er seinen Schüler durch seine dicke Hornbrille an. „Noten müssen sein. Dann kann Tobias später besser in einer Band klarkommen“, erklärt der Musikpädagoge. Der Junge sei ein guter Schüler. Er übe regelmäßig, sei sehr motiviert.

Zu Hause hat Tobias ein eigenes Schlagzeug. Die Fußmaschine der Bass-Drum muss er von dort in die Musikschule mitbringen. Der Vater habe diese Spezialanfertigung konstruiert. Mit ein paar Handgriffen kann Christian Krause sie auf die Fußstützen des Rollstuhls montieren. „Leider hast Du nur richtig Kraft in dem einem Bein“, bemerkt Krause. Tobias nickt lächelnd. Deshalb bleiben die beiden Becken des Hi-Hats, das normalerweise mit dem anderen Fuß gespielt wird, geschlossen. „Spiel mal schneller“, fordert der Lehrer seinen Schüler auf. Ein elektronisches Metronom gibt den Takt vor. Tobias presst die Lippen aufeinander. „Ein hundertzweiunddreißiger Tempo. So schnell warst Du bei dem Stück noch nie.“ Christian Krause ist zufrieden und Tobias ist glücklich. „Ich bin völlig durchgeschwitzt.“ Mit diesen Worten empfängt er seine Mutter, die ihn abholt.

Das Gebäude der Musikschule in Herne ist ein riesiger, in Zartrosa angestrichener klassizistischer Klotz. Aus den vielen Räumen summt und brummt es. Neben den üblichen Disziplinen Klassik, Früherziehung, Rock und Jazz gibt es auch ein spezielles Angebot. Unter dem Motto „Musik verbindet“ bekommen über 30 behinderte Menschen von speziell geschulten Pädagogen Instrumentalunterricht. Christian Krause ist einer dieser Fachkräfte. „Ich bin glücklich mit meinem Beruf“, erzählt der 49-jährige. Das war nicht immer so in seinem Leben. Unmittelbar nach der Realschule ging er zur Polizei. „Ich musste“, gibt der Musiker mit den stets lächelnden Augen zu. Aus eher armen Verhältnissen stammend, mit neun Geschwistern, musste er schnell Geld verdienen. Ein Polizist bekam damals schon in der Ausbildung ein verhältnismäßig hohes Gehalt.

Aber wichtiger als die Innere Sicherheit war ihm zu jener Zeit die Musik. Schon als Sechsjähriger spielte er im örtlichen Posaunenchor Trompete. Als Teenager machte er Rockmusik. Besonders bitter war es für ihn, sich von seinen langen Haaren trennen zu müssen. Obwohl er im Polizeimusikcorps unterkam, war er über zehn Jahre unglücklicher Polizist. Als die großen Demos gegen Nachrüstung oder Atomkraft anstanden, wurde er gelegentlich von seiner Diensttrompete abkommandiert, um dort für Ordnung zu sorgen. Wenn er allerdings frei hatte, sah man ihn auch schon Mal mit Transparent auf der anderen Seite der Absperrungen. „Dieser Spagat hätte mich fast zerrissen.“

Auch musikalisch war der glühende Bewunderer von Miles Davis bei den Polizeimusikern falsch aufgehoben. „Marschmusik und Operettenklänge sind nicht ganz mein Ding.“ Doch mit dem Gehalt leistete sich Krause Unterricht bei den besten Musikern des Landes. Als er dann 1987 die Polizeiuniform an den Nagel hing, war er bereits ein virtuoser Trompeter. Die Verantwortlichen der Musikschule in Herne entdeckten seine Fähigkeiten und stellten ihn an. „Ohne Studium, nur mit einem Abschluss von der Kollegschule. Das war damals noch möglich.“

Seit 18 Jahren ist er nun Musiklehrer in Herne. „Die Vielfältigkeit begeistert mich hier. Und natürlich, dass ich mich anziehen kann und meine Haare tragen kann, wie ich das will.“ Die langen dunkelroten Locken mit dem grauen Schimmer passen gut zu dem Leiter der hauseigenen Bigband. Aber auch der Einzelunterricht ist für ihn immer wieder ein Abenteuer. Sein ältester Schüler wird in diesem Jahr 60. Als 40-jähriger hat jener Professor aus Dortmund bei Christian Krause angefangen, Trompete zu lernen. Bei manchen seiner Schüler, so ist Krause überzeugt, gehe es in erster Linie gar nicht um das Erlernen eines Instrumentes. Als Sechsjähriger hat ein Junge bei ihm angefangen. Nun ist er 20, macht Abitur und ist noch immer im Lehrbuch für Anfänger. „Er kann immer noch nicht viel. Aber irgendwie ist der Trompetenunterricht trotzdem wichtig.“

Inzwischen sind zwei weitere Schüler gekommen. Reiner ist 53 Jahre alt und lernt Klavier. Hartmut ist 47 Jahre alt und lernt Gitarre. Beide arbeiten bei der örtlichen Werkstatt für Behinderte. Und beide freuen sich die ganze Woche auf ihren Musikunterricht. Es habe Monate gedauert, so Krause, dass Reiner und Hartmut so weit waren, den Rhythmus halten können. Im Moment übt er mit den Männern, auf Handzeichen anzufangen und aufzuhören. Die Gitarre von Hartmut hat Christian Krause so gestimmt, dass man nur mit der rechten Hand den Rhythmus auf den Saiten schlagen muss. Reiner hat er mit Bleistift die Tasten angemalt, die er benutzen soll. Zu den Klängen von Gitarre und Klavier spielt Krause auf seiner Trompete eine jazzige Melodie. „Was war das für eine Musik?“, will der Lehrer wissen. „Rock“, rät Hartmut. „Nein, Jazz“, verbessert Krause. „Besonders Leute mit dunkler Haut machen Jazz“, erklärt er. „Kennt Ihr Leute mit dunkler Haut?“ „Jaaa“, antwortet Hartmut. Dann spielt Christian Krause die ersten paar Töne von “Oh when the saints“ vor. Sofort singt Hartmut mit, vollendet die Melodie. “Das kennst Du?“ „Ja!“ Gefällt Dir das?“ „Ja!“

Um das zu spielen, sagt der Lehrer, müsse man die Akkorde wechseln. Dann malt er für Reiner noch ein paar Striche auf die Pianotasten und zeigt Hartmut, wie man den linken Zeigefinger auf das Griffbrett drückt, damit ein neuer Klang entsteht. Beide Männer schauen zunächst etwas verzweifelt. Doch nach den ersten Klängen der Trompete hellen sich ihre Gesichter auf. Natürlich gelingt die Begleitung noch nicht perfekt. Zum Abschied schütteln sie ihrem Lehrer ausgiebig die Hand.

In einer halben Stunde muss Christian Krause zur Bigband-Probe. Anstrengend aber erfüllt sei so ein Tag in der Herner Musikschule, sagt er. Egal ob Universitätsprofessor oder Hartmut oder Reiner oder Tobias, alle seine Schüler würden etwas in der Musik entdecken, was ihnen wichtig ist. Das, was früher den Menschen in der Region die Tauben auf dem Dach, die Kaninchen im Hof gewesen war, mag jetzt das Musikinstrument im Koffer sein. Ein kleines Stückchen Lebenssinn. Um den Strukturwandel im Ruhrgebiet darzustellen, sind vor dem säulenumrahmten Portal der Musikschule unterschiedlich lange Eisenbahnschienen aufgehängt. Ein gigantisches Glockenspiel.