: Zirkusdirektor der Avantgarde
40 Jahre Rockgeschichte neu belebt: Avantgarde-Legende John Cale nimmt seine unterbrochene „blackAcetate“-Tour wieder auf und haucht seinem wegweisenden Werk am Sonntag in der Fabrik neues Leben ein
Eigentlich sei er ein klassischer Komponist, der seine Persönlichkeit verwirre, indem er im Rock’n’Roll herumplansche, hat John Cale sein eigenes Schaffen einmal eingeschätzt. Ein unstillbares Verlangen nach Persönlichkeitsverwirrung offenbar, denn im Verlauf seiner über 40-jährigen Karriere hat der aus Wales stammende Songschreiber, Musiker und Produzent über 50 Platten veröffentlicht und an etlichen als Produzent mitgewirkt – konventionelle klassische Musik aber findet sich eigentlich nur auf dem von Brian Eno produzierten Album „Words for the Dying“. Bekannt geworden ist Cale vor allem für seinen Einfluss auf experimentelle, progressive Rockmusik und Protopunk.
Dabei hat alles durchaus klassisch angefangen. Nachdem er sein Talent zum Klavierspielen entdeckt hatte, studierte der junge Cale Musik am Goldsmiths College, ging dann nach New York, wo er eine Reihe einflussreicher Komponisten kennenlernte. Spätestens jetzt drängt das Unkonventionelle in den Vordergrund. Zusammen mit John Cage und anderen bringt er zum ersten Mal die „Vexations“ des Anti-Musik-Pioniers Erik Satie in ganzer Länge zur Aufführung – in 18 Stunden wird das kurze Klavierstück 840-mal wiederholt. Cale spielt in La Monte Youngs „Theater of Eternal Music“, 1965 stößt er zu Lou Reeds neu gegründeter Formation „Velvet Underground“ – auf deren Sound er den größten Einfluss hatte. Auf den ersten zwei Alben ist Cale zu hören, dann trennt er sich von der Band. Lou Reeds und Cales Ansichten darüber, welche Richtung die Band nehmen sollte, waren zu verschieden.
In den 70ern beginnt Cale, Solo-Alben zu veröffentlichen und mit anderen Künstlern, unter anderem Nick Drake und Terry Riley, zusammenzuarbeiten. Er beginnt als Produzent zu arbeiten und produziert eine Reihe einflussreicher Protopunk-Platten wie die Debüts von Patti Smith und „The Stooges“.
Nach seiner Rückkehr nach Großbritannien verändert sich Cales Stil. Zunehmend weicht die Eleganz der frühen Aufnahmen einer dunklen und bedrohlichen Stimmung, die den Eindruck gerade noch unterdrückter Aggression vermittelt. Ende der 70er schließlich schneidet er auf der Bühne einem toten Huhn den Hals ab, die Band verlässt unter Protest die Bühne. Später gibt Cale zu, dass ein Teil seines zuweilen paranoiden und launischen Verhaltens auf starken Kokain-Konsum zurückzuführen war.
In den 80ern versucht er denn auch, das Düstere wieder mit der Leichtigkeit seiner frühen Arbeiten zu verbinden, bis er sich nach der Geburt seiner Tochter Eden eine Auszeit gönnt. 1989 dann ist Cale schon wieder da und veröffentlicht während der 90er Solo-Alben, schreibt Filmmusik und Gedichte. 1993 kommen „The Velvet Underground“ für eine kurze Reunion wieder zusammen, 1999 zieht Cale in seiner Autobiographie „What’s Welsh for Zen?“ Zwischenbilanz.
Doch auch nach 2000 wird es nicht ruhig um Cale. Im Gegenteil. Die Platte „blackAcetate“, die Cale mit neuer Band 2005 veröffentlicht, wird zum einschneidenden Erlebnis. Endlich scheint Cale Musiker gefunden zu haben, die es ihm ermöglichen, seinen 40 Jahre Rockgeschichte umfassenden Katalog in neuen Dimensionen und mit neuem Gefühl zu interpretieren und seinen Songs neues Leben einzuhauchen. Das Ergebnis kann man seit letzter Woche auf der Live-Doppel-CD nebst DVD „Live Circus“ begutachten – eine revidierte Chronologie dessen, was zunächst fremd schien, sich dann aber als wegweisend und wesentlich entpuppte.
Am Sonntagabend spielt der Zirkusdirektor der Avantgarde mit Band in der Fabrik. FreundInnen des Tabaks sollten dann übrigens auf Nikotin-Pflaster oder -Kaugummis umsteigen. Der Künstler bittet dringend darum, auf dem Konzert nicht zu rauchen. ROBERT MATTHIES
So, 25. 2., 21 Uhr, Fabrik, Barnerstraße 36