Handgemachte Bibliothek

BUCHHANDEL Die Digitalisierung muss weder das Ende des Buches, der Verlage noch der Autoren und Autorinnen sein, resümieren zwei Neuerscheinungen die Lage auf dem Büchermarkt

In der Betreuung und der Herstellung der Bücher tun sich ungeahnte Möglichkeiten auf

VON JÖRG SUNDERMEIER

Im Jahre 1492 veröffentlichte der Kleriker Johannes Trithemus eine Schrift unter dem Titel „De laude scriptorium“, in der er empfahl, gedruckte Bücher auf Pergament abzuschreiben – wegen der geringen Haltbarkeit der auf Papier gedruckten Bücher. Auch der erfolgreiche Florentiner Buchhändler Vespasiano da Bisticci lobte Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts eine von ihm ausgestattete Bibliothek – alle Bücher dort waren „mit der Feder geschrieben, kein einziges gedruckt, denn mein Auftraggeber würde sich dessen geschämt haben“. Doch bereits 1478 sah da Bisticci sich gezwungen, sein Geschäft aufzugeben und sich beleidigt auf sein Landgut zurückzuziehen. Die gedruckten Bücher hatten binnen weniger Jahrzehnte die geschriebenen nahezu völlig verdrängt.

Wenn man diese Geschichte liest, die der Buchhandelskenner Detlef Bluhm in dem von ihm herausgegebenen Sammelband „Bücherdämmerung“ erzählt, drängen sich den Leserinnen und Lesern fast zwangsläufig Parallelen zu den heutigen Debatten im Buchhandel auf. Viele Buchhändler und Verlegerinnen, viele Autorinnen und Leser fragen sich heute, ob das Buch als Medium bleiben wird, ob das E-Book nicht den gesamten Buchmarkt vernichten wird, ob Amazon, Apple und Google nicht auf geradezu diabolische Weise versuchen, den Literaturbetrieb zu unterwandern, und ob nicht sowieso das Bildungsniveau immer schlechter wird. Detlef Bluhms Sammelband bietet gutes Hintergrundmaterial, um sich mit diesen Fragen zu beschäftigen.

Angesichts der Fragen, aus denen oftmals nackte Panik spricht, präsentieren die Autorinnen und Autoren in „Bücherdämmerung“ erst einmal ein paar nüchterne Zahlen. Katja Spichal etwa schreibt, dass in Deutschland seit einiger Zeit jährlich rund 80.000 Erstauflagen von Büchern veröffentlicht werden. Das entspreche, so Spichal, einer Datenmenge von rund 40 Gigabyte. Diese immense Datenmenge wird in Deutschland im Netz jedoch „an jedem Tag in weniger als 3 Minuten produziert“. Nun sind Daten nicht gleich Daten, und der Inhalt eines philosophischen Standardwerkes, eines Fachbuches für Programmierer oder eines Gedichtbandes ist zweifelsohne ein anderer „Content“ als der eines Blogs, in dem eine Person ihre Lieblingskatzenbilder veröffentlicht.

Doch sollte man zunächst einmal ruhig betrachten, was Verleger und Buchhändlerinnen (und die Journalisten) derzeit beunruhigt, denn die Textmenge, die „unprofessionelle“ Autorinnen und Autoren ins Netz stellen, ist beachtlich, und es ist keineswegs ausgemacht, dass ein Blog schlechter als ein Buch sein muss. Angesichts dessen sind die Leserinnen und Leser nicht mehr unbedingt angewiesen auf Bücher und auf Zeitungen – und auch auf E-Books nicht. Denn das Internet bietet genug Lesestoff für alle Zeiten.

So sind inzwischen durchaus brauchbare Ausgaben von Klassikern, also Werken, deren Verfasser mehr als 70 Jahre tot sind, auf diversen Websites kostenfrei lesbar – oder auch als E-Books er erwerben, die man für 0 Euro auf sein Lesegerät lädt. Das Papier als Datenträger sieht daneben – nicht nur auf den ersten Blick – ganz schön alt aus.

Doch zugleich ballt sich im Netz einiges an Macht zusammen: „Blogger.com, der weltweit größte Anbieter mit den meisten Inhalten, gehört seit 2003 zum Google-Imperium, ebenso wie das weltweit größte Portal für audio-visuelle Medien youtube.com und der Gerätehersteller Motorola Mobility sowie der milliardenschwere Online-Werbegigant DoubleClick. Google ist damit unversehens zum größten Content-Produzenten mutiert, zum größten internationalen Publikumsverlag und zum größten Anbieter eines eigenen Ökosystems aus Content-Erstellung, -Verteilung, -Vermarktung und Zugänglichmachung“, so Spichal. Und fährt fort: „Google unterhält, wie Apple und zunehmend auch Amazon, proprietäre Systeme, in denen mit steigender Tendenz nicht professionell erstellte Inhalte, sondern deren Derivate und User Generated Content den Grundstock des Angebotes bilden“.

Proprietär bedeutet, dass die von den Usern erstellten Inhalte Eigentum des Onlineanbieters werden. Für die User ist das aber problematisch, denn sie verfügen über das von ihnen dort veröffentlichte Material nicht im Sinne des Urheberrechtes. Im Gegenteil, so Spichal: „Sie laufen Gefahr, aus dem Dschungel der Herrlichkeiten nicht herauszufinden, und reichern ihn ständig mit eigenem Content an, der ihnen aber nicht mehr gehört, den sie nicht mitnehmen können, wenn sie das System dann doch irgendwann verlassen (möchten).“

Volker Oppmann geht in seinem Beitrag noch weiter – er berichtet vom „Ende der Privatsphäre“ der Leserinnen und Leser – zumindest bei der Benutzung von manchen Lesegeräten. Diese nämlich verfolgen, was der User liest und was er anmerkt, und melden diese Daten an die Anbieter der Lesegeräte zurück – die wiederum die Daten auswerten. „So kurios es sich anhören mag“, meint Oppmann, „sofern mein Anbieter Kundendaten, ganz gleich ob anonymisiert oder nicht, weitervermarktet, werde ich damit als Kunde letztendlich selbst zum Produkt.“

Wie dergleichen aussehen könnte, beschreibt Daniel Leisegang in seinem bemerkenswerten Buch „amazon. Das Buch als Beute“. Er zeigt auf, dass der in den vergangenen Monaten ja oft in die Schlagzeilen geratene Konzern sich nie als Buchhändler im konservativen Sinne begriffen hat. Der junge Informatiker Jeff Bezos, der sein Geschäft in der heimischen Garage eröffnete, suchte nämlich lediglich nach einem Produkt, dessen Verkauf ihn am Wachstum des Internets teilhaben lassen konnte. „Seine Wahl fiel schließlich auf das Buch“, schreibt Leisegang.

Von da an begann Bezos einen Kampf gegen den etablierten Buchhandel, den er in einer „tödlichen Umarmung“ und mit einer „Strategie der roten Zahlen“ (Leisegang) – also unter immensen Kosten – führt, und den er vielleicht schon gewonnen hat. Über Self-Publishing-Services und durch eigene Verlagstätigkeit wird Amazon in den kommenden Jahren versuchen, die Wertschöpfungskette im Buchhandel völlig zu beherrschen – die von den Kunden abgeschöpften Daten sollen dabei helfen, Texte zu generieren, die den Lesegewohnheiten am besten entsprechen. Von Literatur im schöpferischen Sinne kann dann endgültig keine Rede mehr sein.

Dass Amazon, Apple und Google inzwischen eine so große Bedeutung auch für den Buchhandel im engeren Sinne haben, liegt aber auch daran, dass die Verlage und teilweise sogar die Buchhandlungen selbst glaubten, in den Internetriesen einen Partner finden zu können, und alle Warnungen in den Wind schlugen. Dass aber diese Konzerne keine Freunde kennen, sondern nur so lange Bündnisse schmieden, wie es ihnen nützt, müssen nun viele schmerzlich erfahren.

Dennoch, so machen die meisten Autorinnen und Autoren des „Bücherdämmerung“-Bandes – unter ihnen auch Elisabeth Ruge, Thomas Macho und Dietmar Dath – klar, ist das Kulturgut Buch, sei es nun gedruckt, sei es geschrieben, noch lange nicht am Ende. Denn aus den Vorteilen des elektronischen Buches (wie Volltextsuche, Verlinkung, Aktualisierungsmöglichkeiten) und des gedruckten Buches (wie Haptik und Lesefreundlichkeit) lassen sich auch sinnvolle Kombinationen bilden. Und Verlage lernen in den Zeiten der problemlosen Selbstvermarktung vielleicht, dass die Autorinnen und Autoren jene sind, die man nicht finanziell ausbluten lassen sollte, sondern deren Werk zu pflegen ist.

Auch in der Betreuung und der Herstellung der Bücher tun sich ungeahnte Möglichkeiten auf, und die Leserinnen und Leser zeigen schon jetzt, dass sie bereit sind, für ein sorgsames Lektorat und eine liebevolle Verarbeitung eines Buches Geld auszugeben. Und wenn etwa der Illustrator Felix Scheinberger die Cover seines Buches, das immerhin in einer Auflage von 3.000 Exemplaren erschienen ist, handkoloriert hat, dann sind wir von dem Traum des Vespasiano da Bisticci vielleicht gar nicht mehr so weit entfernt – auch die handgemachte Bibliothek hat eine Zukunft!

■ Detlef Bluhm: „Bücherdämmerung. Über die Zukunft der Bücher“. Lambert Schneider Verlag, Darmstadt 2014, 160 Seiten, 19,95 Euro ■ Daniel Leisegang: „Amazon. Das Buch als Beute“. Schmetterling Verlag, Stuttgart 2014, 128 Seiten, 12,80 Euro