: Zurück mit einem Kloß im Hals
TÜRKEI Obwohl sie zum ersten Mal ihre Stimme abgeben durften, beteiligen sich nur wenige TürkInnen im Ausland an der Wahl
Hüseyin H., Kioskbesitzer im Reuterkiez, zuckt die Achseln. „Ist doch für uns hier egal, wer die Türkei regiert“, so seine Reaktion auf das Ergebnis der türkischen Präsidentschaftswahlen am Sonntag, die der bisherige Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan mit einer absoluten Mehrheit von 52 Prozent gewann. H. ist türkischer Staatsbürger und hätte an der Wahl teilnehmen können: Zum ersten Mal durften im Ausland lebende Türken ihre Stimme abgeben. Doch um dafür am vergangenen Wochenende zum Olympiastadion zu fahren, hätte er seinen Kiosk schließen müssen: „Lohnt sich nicht“, meint der 53-Jährige: „War doch klar, wer gewinnt.“
Eine Haltung, mit der H. nicht allein steht: Kaum 100.000, nur etwa 7 Prozent der rund 1,4 Millionen türkischen StaatsbürgerInnen in Deutschland, nahmen ihr Wahlrecht wahr. In Berlin waren es etwa 10.000 von 140.000 Wahlberechtigten.
Konservative Diaspora
Deutlich fiel dabei allerdings das Ergebnis für Erdogan aus: Fast 69 Prozent stimmten für ihn. In Berlin ist Erdogans Mehrheit am knappsten: 55 Prozent – das schlechteste Ergebnis, das der Vorsitzende der konservativ-islamischen AKP in den sechs deutschen Wahllokalen erreichte.
„Es ist ja bekannt, dass Menschen in der Diaspora oft konservativer sind als im Herkunftsland“, sagt Ayse Demir, Sprecherin des Türkischen Bundes Berlin Brandenburg (TBB), zu Erdogans Erfolg in Deutschland. Viele hielten an Werten und Traditionen fest, um sich gegen Assimilation zu wehren. Erdogan habe dieses Potenzial bei den Auslandstürken erkannt: „Er hat den Leuten hier das Gefühl vermittelt: ‚Ich kümmere mich um euch‘.“ Fruchten würde das auch, weil viele TürkInnen sich in Deutschland diskriminiert sähen und die Integrationspolitik nicht gut sei.
Auch für Fevzi Aktas vom Kurdistan Kultur- und Hilfsverein stand Erdogans Wahlsieg bereits vor der Wahl fest. Ihn befriedigt vor allem die niedrige Wahlbeteiligung in Deutschland: „Wir haben zum Boykott der Wahl aufgerufen, weil sie nicht demokratisch war.“ Erdogan sei finanziell und dank medialer Unterstützung den anderen Kandidaten gegenüber im Vorteil gewesen.
Seine Hoffnung sei nun, so Aktas, dass sich die in der Türkei mit absoluter Mehrheit regierende AKP „langsam auflöse“. Das sei auch früher passiert, wenn ein starker Vorsitzender die Partei verlassen musste, weil er Präsident wurde. Die AKP werde nicht durch Ideologie, sondern nur durch das Machtstreben ihres Vorsitzenden zusammengehalten, so Aktas: „Und es wäre gut, wenn die AKP zerfällt, damit der Islamisierungsprozess der Türkei gestoppt wird.“ Ayse Demir sieht dabei Bundesrepublik und EU in der Pflicht: Die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei müssten belebt werden, um „den Demokratisierungsprozess in der Türkei voranzutreiben“.
Für Yildiz H., die am Kottbusser Tor auf die Bahn wartet, ist das Wunschdenken. Sie lebt in Istanbul, hat hier Freunde besucht und ist nun auf dem Rückweg: „Ich fahre mit einem dicken Kloß im Hals zurück“, sagt sie. „Erdogans Politik hat nichts damit zu tun, wie ich und viele andere Großstädter in der Türkei leben.“ Er habe die Bevölkerung gespalten: „Und wir wissen nicht, wie das weitergeht.“ ALKE WIERTH