Singspiel vom Tod

SALZBURGER FESTSPIELE Zu weichgezeichnet: Die Geschichte von Charlotte Salomon als Oper

Musik ist ein Speicher des emotionalen Gedächtnisses

Was ist eigentlich ein guter Opernstoff? Diese delikate Frage ist in Zeiten von Textflächentheater und veränderten Wahrnehmungsstrukturen schwerer denn je zu beantworten. Musiktheater braucht heute nicht zwingend einen plausiblen Plot, um zu funktionieren. Aber Musik und vor allem Gesang sollten als überhöhender Katalysator zwingend und so relevant sein, dass sie nicht zur Klangtapete verkommen.

In dem Stoff, auf dem das für die Salzburger Festspiele entstandene Auftragswerk „Charlotte Salomon“ basiert, spielen Musik und Gesang eine entscheidende Rolle. Die der Oper den Namen gebende Charlotte Salomon hat es wirklich gegeben: Sie wurde 1917 in Berlin in eine jüdische Familie hineingeboren, die in Charlottenburg zur Elite des Kulturbürgertums zählte. Doch in der Familie häuften sich die Suizide, Charlottes Mutter sprang aus dem Fenster, dem Mädchen erzählte man, dass sie an einer Grippe gestorben sei. Der Vater heiratete die Sängerin Paula Lindberg, Charlotte verehrte ihre Stiefmutter und fing an zu malen. 1937 musste sie als Jüdin die Kunsthochschule verlassen, 1939 emigrierte sie nach Südfrankreich, wo bereits ihre Großeltern lebten. Kurz darauf brachte sich die Großmutter um.

Charlotte begann nun, die Grenzerfahrungen künstlerisch zu verarbeiten, und fing wie besessen an, zu zeichnen und zu schreiben. Aus expressiven Gouachen in mediterran inspirierter Farbleuchtkraft, in denen sie nur leicht verfremdet und mit den Stilmitteln des Comics ihr Schicksal erzählte, entstand ein Buch als Bilder-Autobiografie. „Leben? Oder Theater?“ nannte sie das Werk, das sie als „Singespiel“ bezeichnete. 1943 wurde sie denunziert und verhaftet, nach Auschwitz-Birkenau deportiert und noch am Ankunftstag ermordet.

Ihre kraftvolle Bilderserie findet sich heute im Jüdischen Museum Amsterdam, 2012 wurde sie bei der Kasseler Documenta gezeigt.

„Charlotte Salomon“ aus der Feder des französischen Komponisten Marc-André Dalbavie ist die erste von drei Opern, die der Intendant Alexander Pereira, der sich nach dieser Spielzeit vorzeitig verabschiedet, bestellt hat. Über zweieinhalb zunehmend lang werdende Stunden lässt Dalbavie überwiegend verträgliche, oft tonal sich anschmiegende und kaum schroff aufbegehrende Klänge ertönen. Flötenketten schlingen sich umeinander, Harfen liefern Glitzerfolie, nur selten bäumt der groß besetzte Apparat sich auf.

Schöne Momente poliert

Zudem füttert Dalbavie seine Partitur großzügig mit kaum verfremdeten Zitaten: Von Bizets „Habanera“ über Bach-Ariosi bis hin zu Webers enervierend munterem „Jungfernkranz“-Chor geht es munter durch die Musikgeschichte. Gegen die Grundeinsicht, Musik als Speicher des emotionalen Gedächtnisses in der Rückschau der Charlotte Salomon möglichst authentisch einzusetzen, gibt es keine Einwände, doch Dalbavie lässt den Zitaten zu großen Raum, er setzt ihnen zu wenig Eigenes entgegen, geschweige denn, dass aus alt und neu eine elektrisierende Reibung entstünde. So werden schöne Momente poliert, aber nach einer Weile plätschert es doch arg unverbindlich vorbei.

Das ganze Projekt krankt zudem an formalen Schwächen: Regisseur Luc Bondy ließ erst spät den Librettisten austauschen, nun hat die Schriftstellerin Barbara Honigmann an die originalen Salomon-Sätze Zitate von Kant, Brecht und Rilke montiert, was sprachlich holpert und im Gestus akademisch belehrend bleibt.

In der szenischen Umsetzung wird die Titelrolle aufgeteilt: zwischen der Deutsch sprechenden Schauspielerin Johanna Wokalek mit gewohnt magischer Präsenz und der Französisch singenden Mezzosopranistin Marianne Crebassa mit herb-schönem Timbre und berückender Phrasierungskunst. Wie Zwillingsschwestern sind Crebassa und Wokalek einander so ähnlich, dass dies ein Glücksfall sein könnte. Aber die erwünschte Spannung der Ego- und Alter-Ego-Konstellation will sich nicht recht einstellen.

Womöglich ist auch die riesige Felsenreitschule, in die Johannes Schütz eine flache Reihe von ineinander übergehenden Innenräumen gebaut hat, der ganz falsche Ort für ein solches Kammerspiel, das Luc Bondy immerhin fein wie mit dem Silberstift inszeniert hat. REGINE MÜLLER