: „Selbstbefreiung“ der merkwürdigen Art
Prozess um die Verbrennung des „Tagebuchs der Anne Frank“: Angeklagter fühlt sich „falsch gedeutet“
SCHÖNEBECK taz ■ Der Angeklagte muss an diesem Morgen viel erklären. Immer wieder fragt der Richter verwundert nach: Soll das wirklich so gelaufen sein beim Sonnenwendfeuer auf der Pretziener Dorfwiese? Ja, versichert Lars K., bloß hätten ihn alle missverstanden: „Das ist falsch gedeutet worden. Ich habe das nicht so gemeint. Das tut mir leid.“ „Eine große Dummheit?“, fragt der Richter. „So kann man das sagen“, sagt Lars K.
Mit sechs Kumpels aus dem „Heimatbund Ostelbien“ sitzt Lars K., 25 Jahre, auf der Anklagebank des Amtsgerichts Schönebeck. Die Anklage lautet auf Volksverhetzung und Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener. Gemeinsam sollen die jungen Männer im vergangenen Juni vor den Augen von etwa 70 Festbesuchern in dem 900-Einwohner-Dorf bei Magdeburg eine Buchverbrennung nach NS-Vorbild zelebriert haben. So sieht es die Staatsanwaltschaft.
Drei der Männer trugen Fackeln, drei sagten martialische Sprüche auf. Sie beschworen die deutsche Jugend, das deutsche Blut. Wer etwas „artfremdes“ dem Feuer übergeben wolle, der möge das nun tun, soll Sebastian K. gesagt haben. Einer der Kumpels warf eine US-Flagge ins Feuer. Dann trat Lars K. nach vorn. „Ich übergebe das ‚Tagebuch der Anne Frank‘ dem Feuer und befreie mich davon“, soll er gesagt haben. Und dass dieses Buch erlogen sei. Damit, sagt der Staatsanwalt, hätten die Angeklagten „unter eindeutiger Verwendung neonazistischen und nationalsozialistischen Sprachgebrauchs“ die von den Nazis ermordete Anne Frank und sämtliche Opfer des NS-Regimes verhöhnt.
Weit über die deutschen Grenzen hinaus löste die Tat Entsetzen aus. Zu Unrecht, glaubt man den Beteuerungen von Lars K., den der Staatsanwalt als Haupttäter ausgemacht hat. Alles sei nur ein Missverständnis gewesen. Er habe sich im Internet über Sonnenwendfeiern schlau gemacht und gelesen, dass man bei dieser Zeremonie „belastende Gegenstände“ zur inneren Reinigung ins Feuer werfe. Spontan habe er sich für das „Tagebuch“ entschieden. So habe er sich von einem „bösen Kapitel“ der deutschen Geschichte „befreien“ wollen. Dass er das „Tagebuch“ als Lüge abtat, bestreitet Lars K. Auf die Frage des Richters nach der politischen Einstellung der Clique murmelt er: „Eigentlich neutral. Vielleicht ein bisschen angehaucht.“
Lars K. ist der einzige der jungen Männer, der an diesem Morgen überhaupt Fragen beantwortet. Sein Kumpel Marc P. lässt seinen Anwalt eine Erklärung verlesen. Beide übernehmen die Verantwortung für die meisten Vorwürfe, decken ihre Kumpels. Die schweigen.
Überzeugt wirkt der Vorsitzende Richter nach der Befragung nicht, er rät den Angeklagten, noch mal über ein Geständnis nachzudenken. „Fadenscheinig“ nennt der Staatsanwalt ihre Behauptungen. Der Leiter des Berliner Anne-Frank-Zentrums äußert sich drastischer: „Ein Zeugnis der Dreistigkeit“ hätten die Angeklagten am ersten Prozesstag abgelegt, sagt Thomas Heppener. Morgen will das Gericht die ersten Zeugen vernehmen.
ASTRID GEISLER