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Archiv-Artikel

Wahlsabotage bei der SPD

1.000 Stimmzettel verschwinden bei Mitgliedervotum in Hamburg

HAMBURG taz ■ Ihren Spitzenkandidaten für die Wahl zur Hamburger Bürgerschaft in genau einem Jahr wollten die Sozialdemokraten der Hansestadt am Sonntagabend präsentieren. Stattdessen nahmen gestern Vormittag Staatsanwaltschaft und Landeskriminalamt die Parteizentrale am Hauptbahnhof unter die Lupe. Gesucht werden etwa 1.000 Briefwahlstimmen aus der Mitgliederbefragung, die spurlos verschwunden sind. „Wir haben es mit einem kriminellen Vorgang zu tun“, sagte ein versteinerter Parteichef Mathias Petersen, als er am Sonntagabend um 21.30 Uhr den Abbruch der Auszählung verkündete.

Wie rund zwei Drittel der per Briefwahl eingegangenen Stimmzettel aus der versiegelten Urne verschwinden konnten, ist bislang vollkommen unklar. Sie wurde „grundsätzlich von drei, mindestens aber zwei Mitarbeitern“ in der Parteizentrale „befüllt“, sagte Landesgeschäftsführer Walter Zuckerer. Aufbewahrt wurde sie in einem verschlossenen Schrank in einem verschlossenen Raum, die Schlüssel dafür wurden im Tresor verwahrt. Dennoch fehlten die Stimmzettel, als die „versiegelte und verschlossene Urne geöffnet wurde“, berichtete die Wahlkommission: „Wir stehen vor einem Rätsel.“

Und vor einem gewaltigen politischen Flurschaden. Einige Funktionäre befürchten eine Austrittswelle, der Konkurrent CDU spart nicht mit Hohn und Spott, und das erste Medienecho ist verheerend.

Die 11.500 Mitglieder der Hamburger SPD hatten am Sonntag in 76 Wahllokalen – oder zuvor per Brief – darüber abgestimmt, wer Herausforderer von Bürgermeister Ole von Beust (CDU) werden soll. Der 51-jährige Parteivorsitzende Mathias Petersen und die ein Jahr jüngere stellvertretende Parteichefin Dorothee Stapelfeldt hatten ihre Kandidatur angemeldet. Zwei Wochen lang waren sie durch die sieben Parteikreise getingelt, hatten sich auf mehrstündigen Hearings der Basis gestellt und sich zwei Duelle im Lokal-TV geliefert. Der Ausgang des Mitgliedervotums war offen, eine klare Favoritenrolle hatte sich keiner der beiden sichern können.

Gefahndet wird nun nach Täter und Motiv. Wer könnte ein Interesse an einer so offensichtlichen Manipulation gehabt und zugleich Zugang zur Urne gehabt haben, so die Frage, auf die es bis gestern keine Antwort gibt. Klare Antworten sind bislang auch nicht auf die Frage zu erhalten, wie viele Schlüssel für die Türen und den Tresor in Umlauf gewesen sind. Ein Umstand, der zumindest den Chefkoordinator der Basisbefragung, Parteigeschäftsführer Zuckerer, den Kopf kosten müsste.

Wer die politische Verantwortung für das Watergate an der Waterkant übernimmt, ist ebenfalls noch offen. Erste Rücktrittsforderungen am Sonntagabend verhallten ungehört. Heute Abend wird der Landesvorstand in einer Krisensitzung das weitere Vorgehen beraten. War zunächst davon die Rede, in einem Monat eine erneute Mitgliederbefragung durchzuführen, rückte der Landesvorstand gestern Mittag von diesem Plan wieder ab. Es gebe eine „klare Tendenz“, nicht noch einmal die Mitglieder zu befragen, verkündete Parteisprecher Bülent Ciftlik ohne weitere Begründung.

Möglich ist, dass Petersen und Stapelfeldt heute von Amt und Kandidatur zurücktreten. Nicht ausgeschlossen wird jedoch auch, dass der gesamte 24-köpfige Landesvorstand aufgibt. Abgesagt wurde bereits der für heute Abend vorgesehene Landesparteitag, auf dem im Beisein von Bundesparteichef Kurt Beck das Votum der Mitglieder offiziell bestätigt werden sollte.

Beck hat einen freien Abend. Hamburgs SPD hat mit sich selbst zu tun.

SVEN-MICHAEL VEIT

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