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Archiv-Artikel

„Das Judentum wird flockiger“

TAZ-SERIE JÜDISCHES LEBEN Religion werde Teil eines kulturellen Lebensstils, meint der Ethnologe Wolfgang Kaschuba

Wolfgang Kaschuba

■ 64, ist seit 1994 geschäftsführender Direktor des Instituts für Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität zu Berlin.

INTERVIEW JULIANE SCHUMACHER

taz: Herr Kaschuba, ist Jüdischsein eine Marke?

Wolfgang Kaschuba: Wir führen derzeit den zweiten Teil eines Forschungsprojekts zu jüdischem Leben in Berlin und Budapest durch. Das Projekt trägt den Titel: „Trauma und Marke“. Der umreißt gut die beiden Dimensionen, die sich hier vermischen: Es gibt zum einen konkrete Orte, an denen jüdisches Leben stattgefunden hat und auch die Vernichtung desselben. Es gibt aber auch neue, imaginäre Erinnerungsräume, die etwa als Touristenattraktionen dienen oder mit denen geworben wird. In Krakau wird zum Beispiel gerade darüber diskutiert, ein „jewish quarter“ auszuweisen. Das, glaubt man, könne gut als touristische Attraktion beworben werden.

Entwertet das nicht die Erinnerungskultur?

Das kann man als Entwertung empfinden – oder als Aufwertung. Es gibt auf jeden Fall Umbrüche in der Erinnerungskultur. Das hat auch mit einem Generationenwechsel zu tun: Es leben kaum noch Zeitzeugen, die die Gedächtniskultur bisher dominiert haben.

Die jüngere Generation kennt die Schoah nur noch aus Geschichtsbüchern oder Filmen.

Ja, und das macht einen Unterschied. Gleichzeitig gibt es kulturelle Umbrüche: Das klassische Bildungsbürgertum löst sich auf, stattdessen bildet sich eine stärker kosmopolitische Kultur heraus, die Elemente aus verschiedenen Kulturen aufnimmt und eher auf spielerische Weise mit Traditionen umgeht. Kulturbruchstücke werden zu Marken, aus denen man sich quasi „bedienen“ kann. Sie sind nicht mehr an spezifische Orte oder Gruppen gebunden, sondern zirkulieren. London etwa ist heute einer der wichtigsten Orte für karibische Musik.

Warum ist dabei gerade das Jüdische als Marke für Städte interessant?

Es ist zum einen interessant, weil es exotisch erscheint und damit besonders. Gerade im Fall des Judentums werden etwa Elemente migrantisiert, die eigentlich hierhergehören. Zum anderen passen die Bilder, die mit „jüdisch“ verbunden werden, gut in diese neuen globalen Trends: Das Judentum wird als urbane, kosmopolische Kultur betrachtet und ist dadurch attraktiv.

Das Jüdische wird also unter kulturellen Aspekten wahrgenommen, weniger im Hinblick auf die Religion?

Nicht nur das Jüdische. Diese Tendenz lässt sich weltweit beobachten: Religion wird kulturalisiert, in einem gewissen Sinne entheiligt. Sie ist dann mehr Teil eines kulturellen Lebensstils, eines Lifestyles. Das lässt sich auch an der jüdischen Kultur in Berlin gut beobachten. Da werben Restaurants mit jüdischer Tradition und vermerken auf der Speisekarte, das koschere Essen sei auch für Veganer und Muslime gut geeignet. Klezmer-Musik wird eher im Kontext von Weltmusik gesehen und weniger mit jüdischer Religion in Verbindung gebracht.

Was bedeutet das für jüdische Akteure in Berlin, wie stehen sie zu dieser Entwicklung?

Dazu muss man erst einmal fragen: Wer ist ein jüdischer Akteur? Bis 1989 war die jüdische Gemeinde in Berlin recht übersichtlich und homogen. Das hat sich verändert mit dem Zuzug russischer Einwanderer, aktuell mit den vielen jungen Israelis, die nach Berlin ziehen. Wer zur jüdischen Gemeinschaft in Berlin gehört und wer nicht, wer das jüdische Leben in Berlin vertritt, ist gar nicht mehr so klar zu sagen. Der Übergang ist fließend: Von Menschen, für die Judentum als Religion im Alltag eine Rolle spielt, hin zu Menschen, die aufgrund ihrer Abstammung oder Geschichte einen Bezug dazu haben oder einfach die Musik mögen. Das Gesamtpaket „Judentum“ hat sich aufgeweitet, es wird flockiger.

Ist das eine Spezifik von Berlin?

Nein. Aber ich glaube, in Berlin zeigt sich diese Entwicklung stärker als andernorts. Berlin ist ein Zentrum, ein Symbol für säkulare, leichte Stadtkulturen. Die gibt es auch in Manhattan. Aber anders als dort gibt es in Berlin kein starkes jüdisches Bürgertum mehr, das kontrolliert und Regeln vorgibt, wie jüdisches Leben auszusehen hat. Das ist einerseits tragisch, andererseits entsteht dadurch eine große Offenheit, ist es einfach, Neues und anderes auszuprobieren. Viele junge Israelis kommen gerade deshalb nach Berlin.

Gibt es dagegen keinen Widerstand? Orthodoxen Gruppen dürfte eine solche Entwicklung nicht gefallen.

Es gibt natürlich eine Gegenbewegung: jüdische Menschen, die gerade angesichts dieser Entwicklungen ihren Glauben besonders streng leben, ihre Kinder in orthodoxe Kindergärten und Schulen schicken. Das lässt sich gerade in der dritten Generation beobachten: Kinder von relativ säkularen Eltern grenzen sich wieder ab, indem sie die Religion sehr streng leben. Aber auch dieses Revival der Traditionen ist keine Spezifik des Jüdischen, sondern lässt sich angesichts der Globalisierung weltweit beobachten.

Jüdisches Leben in Berlin

■ Vor 1933 lebten etwa 170.000 Juden in Berlin. Die meisten wurden von den Nazis ermordet oder in die Emigration getrieben. Nur 8.000 Berliner Juden erlebten die Befreiung im Mai 1945. Heute zählt die Jüdische Gemeinde gut 12.000 Mitglieder. Von ihnen stammt ein großer Teil aus der ehemaligen Sowjetunion. Die Jüdische Gemeinde ist als Einheitsgemeinde organisiert, die mehrere Strömungen – orthodoxe sowie liberale – vereint. Daneben gibt es eine kleine orthodoxe Gemeinde namens Adass Jisroel. Zudem gehören mehrere Tausend Juden gar keiner Gemeinde an.

■ Zur letzten Gruppe gehören auch die meisten Israelis, die Berlin in den vergangenen Jahren für sich entdeckt haben. Mit Erstwohnsitz gemeldet sind in der Stadt knapp 3.600, Schätzungen gehen jedoch von 15.000 bis 30.000 Israelis aus, die – wenigstens für eine gewisse Zeit – hier leben. Die Community ist in Israel dafür bekannt, besonders links zu sein. Auch viele israelische Schwule und Lesben zieht es nach Berlin.

■ In der Serie widmen wir uns ganz unterschiedlichen Aspekten jüdischen Lebens. Den Auftakt am 10. Juli machte ein Interview mit Cilly Kugelmann, der stellvertretenden Leiterin des Jüdischen Museums. Themen in den nächsten Wochen sind u.a. Streitigkeiten innerhalb der Gemeinde. (taz)

Gibt es Teile der jüdischen Kultur, die sich nicht so leicht vermarkten lassen, in gewissem Sinn also Widerstand gegen diese Inwertsetzung leisten?

Die Elemente, die direkt mit dem religiösen Kultus zu tun haben, sind nicht in diese globale Verwertung einbezogen. Das ist sicher auch ein Unterschied zum Christentum – ein Kreuz kann man sich auch aus modischen Gründen um den Hals hängen, das würde mit den Insignien der orthodoxen Kultur niemand machen.

Wo findet jüdisches Leben in Berlin heute statt?

In der ganzen Stadt. Es lässt sich da kein Bezirk oder Viertel ausmachen, wo sich jüdisches Leben konzentriert, das ist dezentral über die Stadt verteilt. Viele Initiativen, Veranstaltungen oder Partys werden übers Internet beworben oder koordiniert. Dort gibt es auch Kontaktbörsen.

Meinen Sie damit eine Art moderne Heiratsbörse?

Manchen geht es darum, einen Partner zu finden, der auch jüdisch ist. Andere wollen einfach Gleichgesinnte treffen, mal wieder ihre Sprache sprechen. Das andere hat eher Eventcharakter: Da werden Partys unter bestimmten Mottos gefeiert, Konzerte veranstaltet. Das kann sich auch vermischen, wie etwa im Fall der Meschugge-Paryes. Die sind einfach in als exotische Locations – so wie in den 1990ern die Russen-Disko. Aber sie sind gleichzeitig auch ein Ort für das jüdische Berlin, um andere kennenzulernen.

Infos zum Forschungsprojekt: www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/drittmittelprojekte/vom-trauma-zur-marke