Aus drei mach zwei

Hamburgs Schule steht vor einer Wurzelbehandlung: Künftig soll es nur noch zwei Schultypen geben – die beide das Abitur vergeben können. Außer den Grünen alle für Gymnasium und Stadtteilschule

Stadtteilschule soll „Risikoschüler“ und „besonders begabte Schüler“ fördernIn der neuen Schule wird die äußere Differenzierung der inneren weichen

AUS HAMBURG KAIJA KUTTER

In Hamburg steht eine bildungspolitische Sensation bevor. SPD und CDU einigten sich im Abschlussbericht der Hamburger Enquetekommission Schule auf ein Zwei-Säulen-Modell aus Stadtteilschule und Gymnasium. Dafür sollen ab dem 1. August 2009 alle Hauptschulen, Realschulen und Gesamtschulen sowie die beruflichen Gymnasien zu einer Schulform verschmelzen – und das Abitur vergeben können. Parallel dazu soll es weiter Gymnasien geben, in denen die Kinder in nur zwölf Jahren das Abitur ablegen.

Zweigliedrige Systeme sind nicht neu, es gibt sie beispielsweise in Sachsen und in Thüringen. Besonders am Hamburger Modell ist, dass beide Schulen den Weg zum Abitur bieten.

Der Hamburger CDU-Schulpolitiker Robert Heinemann spricht von einem „historischen Kompromiss“. Er hofft, damit „alte Grabenkämpfe“ um die richtige Schulstruktur „ein für alle Mal zu beenden“. Seine Gegenspielerin von der SPD, die Hamburger Schulpolitikerin Britta Ernst, lehnt es ab, von einem historischen Kompromiss zu sprechen, weil die Hamburger SPD als Ziel „eine Schule für alle“ festlegte. Dennoch lässt sie sich jetzt auf das Zwei-Säulen-Modell ein, weil sie die Chance ergreifen will, gemeinsam mit der CDU die Hauptschule abzuschaffen.

Verglichen mit der Diskussion in anderen Bundesländern ist die Bewegung beachtlich, die die CDU hier vollzieht. In Schleswig-Holstein gehen schon Realschüler auf die Straße, nur weil sie in der neue Regionalschule in Klasse 5 und 6 mit Hauptschülern zusammen lernen sollen. In Niedersachsen verbietet die CDU neue Gesamtschulen, weil sie das gegliederte System stärken will. Noch bei Regierungsübernahme 2004 hatte auch Hamburgs Bildungssenatorin Alexandra Dinges-Dierig (CDU) vertreten, man müsse die Hauptschule „stärken“.

Doch nach Veröffentlichung der für Hamburg niederschmetternden Ergebnisse von Pisa 2003 im Herbst 2005 kam der Schwenk. Mehr als ein Viertel, 27,6 Prozent der 15-Jährigen, stand bei der Lesekompetenz auf der untersten Stufe und nur knapp zehn Prozent erreichten die oberste Stufe. „Lasst uns mal nach Sachsen gucken“, verkündete Heinemann in Absprache mit der Senatorin. Die dortige Mittelschule erziele gute Erfolge.

Heinemann hätte gern schnell „die Kuh vom Eis gekriegt“ und sich nach vor der nächsten Wahl mit den Elbsozis auf ein Zwei-Säulen-Modell verständigt. Sehr besorgt, sie würden hier geschluckt und degradiert, reagierte Hamburgs Gesamtschulszene – immerhin geht ein Drittel der Kinder auf diese Schulform. Die zweite Säule, so die bald erhobene Forderung, müsse attraktiv sein für Kinder aus bildungsnahen Schichten und auch, wie die 38 Gesamtschulen, auf direktem Wege das Abitur anbieten.

Hamburgs grüner Schulpolitikerin Christa Goetsch, aber auch der SPD ging der 31-jährige Lehrersohn aus Othmarschen zu forsch vor. Sie beantragten im Herbst 2005 die Einrichtung einer Enquetekommission mit Namen „Konsequenzen der neuen Pisa-Studie für Hamburgs Schulentwicklung“, die sich neben der Schulstruktur auch mit der Frage beschäftigen sollte, wie eben der hohe Anteil an Risikoschülern gesenkt werden kann.

Gut ein Jahr und etliche Expertenanhörungen später kommt nun in etwa das heraus, was Heinemann ursprünglich geplant hatte. In der Hamburger SPD ging der Zustimmung eine innere Zerreißprobe voran, wollen doch die Basis und die Grünen die „Schule für alle“. Das jetzt empfohlene Modell ist auch vor dem Hintergrund dieser Auseinandersetzung zu verstehen. So hat auch Heinemann begriffen, dass es zu Unmut der Realschuleltern führen kann, wenn man sie in die Stadtteilschule überführt, bevor gesichert ist, dass sie Anschluss ans Abitur finden.

Die CDU legte Wert drauf, dass strukturell sichergestellt wird, dass an den Stadtteilschulen der Weg zum Abitur offen steht. Und wie an Gesamtschulen soll auch an den neuen Schulen mindestens ein Drittel des Personals aus Gymnasial- und Berufsschullehrern bestehen. Auch dürfen Haupt- und Realschulen nicht einfach das Schild auswechseln und ab Klasse 7 weiter in „H“- und „R“-Klassen trennen. „Maßgebliches Ziel ist die individuelle Förderung eines jeden Kindes“, heißt es im Enquete-Bericht. Formen der „dauerhaften äußeren Differenzierung“ sollten zugunsten „innerer Differenzierung und Individualisierung“ zurücktreten – vielleicht der Kern der bevorstehenden Hamburger Schulrevolution, weil die völlige Abkehr vom Ausleseprinzip.

Die Stadtteilschule soll kleinere Klassen haben als die Gymnasien und möglichst in jedem Bezirks als Ganztagsschule angeboten werden. Ihre „besondere Aufgabe“ ist die Förderung von „Risikoschülern“, sie soll aber auch „besonders begabte Schüler“ umfassend fördern. Mit anderen Worten: Sie darf arbeiten wie eine Gemeinschaftsschule, nur innerhalb der zweiten Säule.

Ob dies wirklich gelingt oder ob die Stadtteilschule wie schon heute die Hauptschule zur Restschule verkommt, hängt nach Ansicht der Enquete-Experten von der Mischung der Schülerschaft ab. „Die Stadtteilschule darf nicht nur aus HR [Haupt- und Realschülern, die Red.] bestehen. Wenn sie 60 Prozent der Schüler erreicht, dann wird sie es schaffen“, sagte der von der SPD in die Kommission entsandte Wissenschaftler Reiner Lehberger. Auf die Gymnasien gehen aber 50 Prozent, aus Expertensicht also zu viel. An dem Elternwahlrecht wollen CDU und SPD aber festhalten. Dieses sei „ein pädagogisches und politisches Ärgernis“, sagte sogar der von der CDU als Experte berufene Bildungsforscher Matthias Rath und fasste den delikaten Widerspruch so zusammen: „Das Beste für das Kind ist nicht das Gerechteste für die Gesellschaft.“

Etwas gewunden hat sich die Kommission denn auch bei der Frage, wie sich das Gymnasium gegenüber der Stadtteilschule profiliert. Robert Heinemanns Vorschlag, dort sei eher „eigenständiges und wissenschaftsorientiertes“ Lernen gefragt, an der Stadtteilschule hingegen das „handlungsorientierte“, wurde von Grünen und SPD nicht mitgetragen, weil diese Aufteilung in Begabungstypen wissenschaftlich als überholt gilt. In den Empfehlungen einigte man sich deshalb darauf, dass auch Gymnasien „Berufsorientierung“ bieten und umgekehrt die Stadtteilschulen in ihrer „Wissenschafts- und Studienorientierung nicht hinter das Angebot erfolgreicher Gesamtschulen zurückfallen“.

Durchaus unterschiedlich in Klasse 4, so Lehberger, seien aber die „Lernausgangslagen“. Darum soll auf Basis von Kompetenztests in Klasse 4 eine Empfehlung abgegeben werden, auf welche Schule das Kind kommt. Nach Klasse 4 soll dann das Gymnasium „temporeicher werden“ und seinen „Leistungsanspruch noch stärker“ betonen, findet die CDU. Eltern, Lehrer und Schüler wüssten künftig „von dem besonderen – auch zeitlichen – Anspruch dieser Schulform“, schreibt Heinemann. Eine Ansage, die Hamburgs Gymnasialeltern zornig machen könnte, wurde doch die Abiturverkürzung vor fünf Jahren bereits ohne ausreichende Straffung der Lehrpläne eingeführt. Laut einer Umfrage brauche die Hälfte der Schüler Nachhilfe und leide an Stresssymptomen. Wer sich künftig darüber beklagt, soll sein Kind zur Stadtteilschule schicken.

Die Vorsitzende des Hamburger Elternvereins, Karin Medrow-Struß, hält daher das ganze Modell für „nicht kindgerecht“. Die Tests würden Kinder und Eltern unter Stress setzen – und in der Grundschule ein „Teaching for the Test“ hervorrufen.

Ebenso strittig ist die Regelung nach Klasse 6. Nur bis dann dürfen Gymnasien Kinder zur Stadtteilschule abschulen. Danach sollen Gymnasien Verantwortung für ihre Schüler übernehmen. „Das wird ein großes Aussieben“, fürchtet Medrow-Struß. „Eltern werden ihre Kinder dort durchpeitschen müssen.“ Auch die Grüne Christa Goetsch sagt: „Gerade zehn-, elfjährigen Kindern wird dieser Druck nicht gerecht.“ Sie fordert, „die Energie ins Fördern und nichts ins Sortieren zu verschwenden“.

Selbst SPD-Expertin Ernst sprach bei der Regelung nach Klasse 6 von einem „Übel“. Sie sehe aber keine andere Möglichkeit, sagte sie vor dem Elternverein. Die Gymnasien bräuchten eine „Übergangsphase“, in der sie sich „nicht vollständig der Heterogenität stellen“. Dennoch beharrt sie darauf, die Abschulungen nach fünf Jahren zu „prüfen“.

Hier endet der Friede mit der CDU. Stelle die SPD das Abschulen ein, mache sie „das Gymnasium zum Etikettenschwindel, um es etwas später abschaffen zu können“, begründet Heinemann. Nur mit der CDU sei das Zwei-Säulen-Modell „garantiert“. Auf die Frage, warum nicht auch er sich eine Schule für alle als „Zielperspektive“ vorstellen könne, sagte Heinemann: „Ich bin mutig, aber nicht übermutig.“ Vielleicht denke er darüber auch mal anders – in 20 Jahren.