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Archiv-Artikel

Eine Debatte in Deutschland

KRISENREGION Die Bundesregierung schließt Waffenlieferungen an die Kurden im Nordirak nicht mehr aus. Die Opposition hält diese Kehrtwende eher für „Aktionismus“. Doch die Diskussion läuft quer durch alle Parteien

Die Flucht der Jesiden

■ Bedrohung: Geschätzt 80.000 Jesiden waren von den Islamisten vertrieben worden. Die Terrorgruppe „Islamischer Staat“ (IS), die große Gebiete im Norden des Irak unter ihre Kontrolle gebracht hat, bezeichnet Jesiden als „Teufelsanbeter“. In ihren Augen müssen Jesiden bekehrt oder getötet werden.

■ Flucht: Vor rund zwei Wochen flüchteten die Jesiden aus der Stadt Sindschar in das dahinter liegende Gebirge, wo sie bei Temperaturen von bis zu 40 Grad ausharrten.

■ Befreiung: In den letzten fünf Tagen sicherten Kämpfer der kurdischen PKK einen Korridor vom Gebirge zur rund 15 Kilometer nördlich liegende Grenze nach Syrien, das dort ebenfalls von Kurden kontrolliert wird. So konnten Tausende Jesiden flüchten. Eine UNHCR-Sprecherin sagte, die Menschen seien extrem erschöpft und litten unter Flüssigkeitsmangel.

■ Fluchtziele: Die meisten der Jesiden sind laut UN in Lagern bei der syrischen Stadt Al-Kamischli untergekommen. Rund 2.000 hat die Türkei nach eigenen Angaben aufgenommen. Ein Camp für rund 16.000 weitere Jesiden werde errichtet. Viele Jesiden sind in die Kurden-Gebiete im Norden des Irak gezogen. Sie nutzen einen nur drei Kilometer langen Abschnitt der syrisch-irakischen Grenze, der auf beiden Seiten von Kurden kontrolliert wird. Vom Sindschar-Gebirge bis Dohuk sind es rund 180 Kilometer.

■ Aktuelle Lage: Nach Angaben der Vereinten Nationen sind nur noch rund 1.000 Menschen in dem Gebirge eingeschlossen. Ein noch bis zum Mittwoch von den USA mit Hochdruck geplanter Rettungseinsatz für die Jesiden sei daher „wesentlich unwahrscheinlicher“ geworden, teilte das Pentagon mit, nachdem sich eine US-Spezialeinheit im Gebirge ein Bild gemacht hatte.

■ Zweifel: Die Gesellschaft für bedrohte Völker zweifelt die Einschätzungen der USA an. „Die Erkundungstrupps können nicht in allen Höhlen, Tälern und Schluchten nachgesehen haben. Wir gehen weiter von 30.000 bis 40.000 Menschen aus, die von der Terrororganisation ‚Islamischer Staat‘ (IS) eingekesselt sind“, sagte der Nahost-Experte Kamal Sido, am Donnerstag. (ga)

BERLIN taz | Angesichts der dramatischen Lage im Irak schließt Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) jetzt auch Waffenlieferungen in das Land nicht mehr aus. „Wir können Kurdistan jetzt nicht alleine lassen und zusehen, wie dort Menschen abgeschlachtet werden“, sagte der Außenminister Mittwochabend im ZDF. Er wolle „zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht ausschließen, dass wir gegebenenfalls, wenn die Bedrohungslage so anhält, auch Waffen liefern müssen“, sagte Steinmeier.

Noch am Montag hatte die Bundesregierung dies abgelehnt – mit Verweis auf ihren Grundsatz, kein Kriegsgerät in Krisenregionen zu liefern. Seitdem rückt sie Stück für Stück von diesem Prinzip ab: SPD-Chef Sigmar Gabriel zog nach einem Treffen mit Vertretern der Jesiden in Deutschland am Dienstag auch künftige Waffenlieferungen an die Kurden in Erwägung, wenn es etwa gelte, einen drohenden Völkermord zu verhindern. Am gleichen Tag kündigte Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) an, die Kurden im Nordirak mit Gütern wie Helmen, Schutzwesten und „geschützten Fahrzeugen“ ausstatten zu wollen. Am Donnerstag stärkte ihr Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) dafür den Rücken. Es gebe immer einen Spielraum, sagte sie der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung. „Und den werden wir, wenn nötig, ausschöpfen.“

Ist das jetzt die vielbeschworene neue „außenpolitische Verantwortung“, die Deutschland übernehmen will, wie sie Bundespräsident Joachim Gauck angemahnt hat – zur Not auch mit militärischen Mitteln?

„Ich finde das falsch, das ist Aktionismus“, kritisiert Omid Nouripour, der verteidigungspolitische Sprecher der Grünen, Steinmeiers Vorstoß gegenüber der taz. „Es gibt keine logische Begründung dafür, warum Deutschland jetzt Waffen liefern muss.“ Auch seine Parteikollegin Claudia Roth betont, humanitäre Hilfe müsse jetzt Vorrang haben. Die grüne Bundestagsvizepräsidentin ist gerade im Nordirak unterwegs, um sich ein Bild der Lage zu machen. Die Region sei „kurz davor, dass die Infrastruktur kollabiert“, sagte sie am Telefon auf dem Weg nach Dohuk im Nordwesten des Autonomiegebiets. Dort habe der Gouverneur den Notstand ausgerufen, weil es mittlerweile mehr Flüchtlinge als Einwohner gebe.

Nouripour schließt zwar nicht aus, dass die Bundeswehr – in Absprache mit den internationalen Gremien – kurdische Kämpfer „beraten und trainieren“ oder in Notlagen Menschen evakuieren könnte. „Wenn einer von drei Hubschraubern abstürzt, weil er mit Flüchtlingen überladen ist, dann sehen wir doch, woran es jetzt am meisten fehlt“, sagt er. Aber er sagt auch: „All die Konflikte der letzten Jahre zeigen uns, dass die Hemmschwelle für Waffenexporte in Krisenregionen mindestens so hoch sein muss wie die für Auslandseinsätze der Bundeswehr.“ Und seine Parteifreundin Roth ergänzt, es könne „nicht Aufgabe der Kurden sein, den Islamischen Staat niederzukämpfen“. Das sei „eine internationale Aufgabe“ und hänge auch davon ab, was jetzt in Bagdad passiere. Damit stellen sich die beiden gegen ihren Parteichef Cem Özdemir, der sich vor knapp einer Woche für Waffenlieferungen an die Kurden ausgesprochen hatte.

Auch Frankreich will jetzt, nach den USA, Waffen in die Kurdenregion liefern. Die Niederlande ziehen das ebenfalls in Erwägung. Jan van Aken, Militärexperte der Linksfraktion, hält das für „überflüssig und gefährlich“. Denn: „Die Bedrohungslage für die jesidischen Flüchtlinge hat sich völlig verändert.“ Nach den US-Bombardierungen gegen den Islamischen Staat (IS) gebe es keine akute Bedrohung mehr. Die IS, so van Aken zur taz, sei den kurdischen Verbänden militärisch deutlich unterlegen.

Laut New York Times hatten US-Spezialeinheiten im Sindschar-Gebirge festgestellt, dass sich dort mittlerweile wesentlich weniger als 40.000 Flüchtlinge aufhalten. „Das deckt sich mit dem, was die PKK über die Lage dort mitteilt“, sagt van Aken. Dringend nötig sei jetzt humanitäre Hilfe. Sinnvoll könne es auch sein, Sprengdetektoren oder Hunde, die Sprengstoff erschnüffeln können, in die Region zu liefern. „Die Diskussion um Waffenlieferungen sei aber „eine Phantomdebatte“, so van Aken.

Fraktionschef Gregor Gysi hatte sich Anfang der Woche angesichts der Meldungen über Zehntausende von vom IS-Terror tödliche bedrohte Flüchtlinge in der taz für Waffenlieferungen an den Irak und kurdische Milizen ausgesprochen. Am Donnerstag machte er einen Rückzieher. Im Deutschlandradio erklärte er, dass nicht Waffen, sondern Hilfslieferungen nötig seien.

In der Union sehen manche das etwas anders. Unionsfraktionsvize Andreas Schockenhoff hält „die konkrete Unterstützung und Bewaffnung der kurdischen Streitkräfte“ für richtig. Denn das Vordringen der IS-Milizen sei die Ursache der humanitären Katastrophe im Irak. Ein Problem sei, das kurdische Soldaten an amerikanischem und russischem Gerät ausgebildet wurden. „Deshalb ist es richtig, genau zu prüfen, welches Material die Bundesrepublik – in Abstimmung mit unseren Partnern – zur Verfügung stellt.“ CSU-Entwicklungshilfeminister Gerd Müller sieht Deutschland „nicht in der Verpflichtung, im Nordirak mit Waffenlieferungen einzugreifen“. Der Passauer Neuen Presse sagte er: „Ich bin für die Lieferung von Medizin, Lazaretten, Krankenwagen und vieles mehr, was möglich ist, aber nicht für Waffenlieferungen.“

Auch Rainer Arnold, verteidigungspolitischer Sprecher der SPD-Fraktion, lehnt schnelle Waffenlieferungen ab. Um den Vormarsch der IS kurzfristig zu stoppen, bräuchten die Kurden komplexe Waffensysteme, in deren Bedienung die Peschmerga-Kämpfer erst einmal eingewiesen werden müssten. Dazu sei die Bundeswehr auf die Schnelle schon logistisch nicht in der Lage. Statt schneller Waffenlieferungen brauche der Irak eine Strategie, um seine Bevölkerung langfristig wieder selbst beschützen zu können. „Deutschland könnte hier zum Beispiel durch Militärberatung helfen. Im Einzelfall könnte ich mir in Zukunft auch wieder Waffenexporte vorstellen, aber jeder Einzelfall müsste genau geprüft werden“, schränkt Arnold ein.

„Im Einzelfall könnte ich mir in Zukunft auch wieder Waffenexporte vorstellen, aber jeder Einzelfall müsste genau geprüft werden“

RAINER ARNOLD (SPD)

Am Freitag will die Bundeswehr unterdessen erste Hilfsflüge in den Nordirak starten. Vier Transall-Flugzeuge sollen zunächst Sanitätsmaterial und Lebensmittel nach Erbil ins kurdische Autonomiegebiet bringen.

ANJA MAIER, STEFAN REINECKE,

TOBIAS SCHULZE, DANIEL BAX