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Archiv-Artikel

Schrumpfende Altenrepublik

GEBURTEN Weil bei uns zu wenige Kinder zur Welt kommen, nimmt die Bevölkerung ab

Müssen wir die rückläufige Geburtenentwicklung als Chance begreifen?

VON OLE SCHULZ

Mit statistischen Vorhersagen ist es so eine Sache: Sie schreiben unter Annahme gewisser Prämissen eine aktuelle Entwicklung in die Zukunft fort – und irren dabei manchmal gewaltig. So hieß es dereinst im Westberlin der Vorwendezeit, wenn sich der damalige Trend fortsetzen würde, dann würden eines Tages keine Menschen, sondern nur noch Hunde in der Mauerstadt leben. Erfreulicherweise kam es anders.

Sollten allerdings die Prognosen für die Geburtenentwicklung in Deutschland zutreffen, dann werden künftig Themen wie gesellschaftliche Überalterung und Arbeitskräftemangel noch stärker im Fokus der Politik stehen. Der jüngst vom Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung vorgestellte Bericht zur demografischen Lage der Nation zeichnet das Bild einer schrumpfenden Altenrepublik. Die Einwohnerzahl Deutschlands wird demnach bis 2050 um 12 Millionen sinken.

Tiefpunkt 2009

Mit den Daten des Statistischen Bundesamtes können wir Folgendes feststellen: Seit nunmehr fast 40 Jahren gibt es nicht mehr genug Geburten, um die Bevölkerungszahl stabil zu halten oder gar zu steigern; der bisherige Tiefpunkt wurde 2009 erreicht, als in Deutschland lediglich 665.000 Babys zur Welt kamen.

Immerhin gibt es nun Anzeichen für eine vorsichtige Trendwende: Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes kamen in den ersten neun Monaten 2010 fast 20.000 Babys mehr auf die Welt als im Vergleichszeitraum 2009 – das entspricht einem Plus von 3,6 Prozent.

Über die Gründe dieses vermeintlichen Babybooms lässt sich trefflich streiten: Die Bundesfamilienministerin Kristina Schröder (CDU) will die Daten erst kommentieren, wenn sie im August für das ganze Jahr 2010 vorliegen. Ihre Vorgängerin von der Leyen, die für 2009 voreilig eine Geburtenwende prophezeit hatte, stritt mit dem Europäischen Statistikamt noch über Zahlen im Promillebereich.

Während das Bundesfamilienministerium den erwarteten Geburtenanstieg auf die Einführung des Elterngelds und den Ausbau der Kinderbetreuung zurückführen wird, zeigen verschiedene Untersuchungen, dass sich familienpolitische Maßnahmen sich nur langsam auf die Geburtenentwicklung auswirken. Laut dem Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung werden in jenen westeuropäischen Staaten die meisten Kinder pro Frau geboren, in denen Männer und Frauen weitgehend gleichberechtigt ihren Alltag leben – Emanzipation ist wichtiger als Elterngeld, könnte eine Schlussfolgerung lauten.

Im europäischen „Familienmusterland“ Frankreich liegt die Geburtenrate pro Frau heute bei 1,9 Kindern, in Deutschland dagegen bei nur knapp 1,4 – für eine „gesellschaftliche Reproduktion“ wäre aber eine Geburtenziffer von 2,1 nötig. Man sollte sich nicht von den vielen Müttern in Prenzlauer Berg täuschen lassen – sie sind nicht repräsentativ für die Republik, vor allem nicht für ländliche Gebiete. Was nach Umfragen gleichwohl zugenommen hat, ist der Wunsch von Paaren, Kinder zu bekommen.

Das wird aber nichts am fortschreitenden Bevölkerungsrückgang ändern. Nach einer neuen Studie der Bertelsmann Stiftung ist es nicht allein die niedrige aktuelle Geburtenrate, sondern auch die Abnahme der sogenannten Elterngeneration – das sind Menschen zwischen 22 und 35 Jahren –, die dabei eine entscheidende Rolle spielt. Der Anteil der Elternjahrgänge an der Bevölkerung wird demnach bis 2025 weiter auf 15,7 Prozent sinken – bedingt wiederum durch die rückläufigen Geburtenzahlen der letzten Jahrzehnte.

Neben schwerwiegenden Konsequenzen für den Arbeitsmarkt und das Rentensystem wird es zu regionalen Ungleichgewichten kommen: Die „Bildungswanderung“ junger Menschen wird zu einer relativen Konzentration der Elternjahrgänge in städtischen Regionen führen, heißt es in der Studie der Bertelsmann Stiftung. Dadurch dürften sich der Bevölkerungsrückgang und die Alterung in den ländlichen Räumen noch verstärken. Vor den betroffenen Gemeinden stehen große Aufgaben: Um dieser Entwicklung entgegenzuwirken, müssten die Attraktivität des Lebensumfeldes, das Arbeitsangebot, die Bildungsinfrastruktur und die Verkehrsverbindungen verbessert werden.

Einwanderung sinnvoll

Wird sich sonst Sarrazins unsägliches Diktum, zumindest auf dem Lande, doch bewahrheiten? Oder müssen wir die rückläufige Geburten- und Bevölkerungsentwicklung einfach nur als Chance begreifen? Anders gesagt: Vielleicht sollten wir uns lieber früher als später mit dem Gedanken anfreunden, dass wir hierzulande unbedingt mehr junge, ausländische Mitbürger brauchen, die Bedingungen dafür schaffen und das Positive daran in den Vordergrund stellen – die Bereicherung unserer Kultur durch die Begegnung und den Austausch mit dem „Anderen“. Laut Berlin-Institut sind wir davon noch weit entfernt: Statt auf mehr Einwanderung werde eher auf Abschottung gesetzt.

Vielleicht werden es aber auch kaum zu steuernde Migrationsströme sein, die dazu beitragen, dass in Deutschland die Frage der Zugehörigkeit zur Nation künftig liberaler ausgelegt werden könnte. Selbst in den Unionsparteien scheinen das einige so zu sehen. Der ehemalige CDU-Umweltminister Klaus Töpfer sagte etwa, es sei weder möglich noch sinnvoll, Europa angesichts der Flüchtlinge aus Nordafrika zu einer „Festung“ auszubauen. In Afrika gebe es viele junge, gut ausgebildete Menschen ohne wirtschaftliche Perspektive, in Europa indes eine überalterte Bevölkerung, dazwischen nur 14 Kilometer Meer: „Es geht nicht darum, ob wir sie aufnehmen wollen. Die werden kommen.“