Die Cousine aus Uruguay

SÜDAMERIKANISCHE TAZ Jung, weiblich, günstig und dissident: „La diaria“ ist Kult und die zweitgrößte Tageszeitung des Landes

VON GERHARD DILGER

Es gibt in Lateinamerika nicht viele Tageszeitungen, die an die taz erinnern. Die bekanntesten sind sicher La Jornada aus Mexiko und Página 12 aus Argentinien, die in den 1980er Jahren gegründet wurden. Mit stattlichem Umfang und einem breiten linken Meinungsspektrum sind beide eine feste Größe in der Medienlandschaft. Doch das Blatt, das von Struktur und Gestus her der taz am ähnlichsten ist, kommt aus Uruguay: la diaria, was übersetzt Tageszeitung und auch „das tägliche Auskommen“ bedeutet. Die 16 Seiten im Tabloid-Format erscheinen von Montag bis Freitag und kosten umgerechnet 60 Cent.

Vergangene Woche veranstalteten die BlattmacherInnen zum fünften Geburtstag in Montevideo ein rauschendes Fest im diaria-Café, wo sonst Kulturveranstaltungen, Podiumsdikussionen und Fotoausstellungen stattfinden. Gründe zum Feiern gab es genug: „Die Überschrift auf unserer ersten Titelseite lautete ‚Erste Buchstaben der Freiheit‘“, erzählte Chefredakteur Marcelo Pereira, mittlerweile „hat unsere Freiheit das Wort ‚Kooperative‘ schreiben gelernt“. Die „Kooperative“ der diaria ist eine Erfolgsgeschichte: Mit Hilfe eines stetig wachsenden Abonnentenstammes und solidarischen Aktionären hat sich la diaria mit derzeit 7.400 Exemplaren zur Tageszeitung mit der zweitgrößten Auflage in dem 3,5-Millionen-Einwohner-Land am Río de la Plata gemausert.

Unangefochtene Nummer eins ist die konservativ-altbackene El País. Die überrundeten Konkurrenten, die linksliberale La República und das Wirtschaftsblatt El Observador, wurden Anfang 2011 mehrheitlich von Investoren aus Argentinien und Brasilien übernommen. Junge Leser haben diese Blätter kaum. Vor allem der Zielgruppe der bis zu 35-Jährigen wollten die GründerInnen der diaria ein zeitgemäßes und erschwingliches Produkt bieten – und diese Rechnung ist aufgegangen.

Dies gelang durch neue Vertriebswege. Während die Konkurrenz vorzugsweise an den Kiosken vertreten ist, gibt es la diaria nur im Abo. Damit habe man der „Kiosk-Mafia“ ein Schnippchen geschlagen. „Die wollten von uns einen Rabatt von 40 Prozent und 1.200 Freiexemplare“, erzählt Damián Osta, Geschäftsführer des Projekts. Nicht umsonst wurde den Austrägern, die noch vor dem Morgengrauen mit dem Motorrad unterwegs sind, die Reportage in der Jubiläumsnummer gewidmet: „Diarias de motocicleta“, in Anspielung an das Che-Guevara-Roadmovie.

Schon wieder ein Wortspiel! Pfiffige Überschriften sind ein Markenzeichen der diaria. Damit setzt sie sich bewusst ab vom scheinbar sachlichen und objektiven Journalismus, den die seriösen Blätter in Lateinamerika zumindest im Politik- und Wirtschaftsteil hochhalten. „Vergiss den Neutralismus“, sagt Pereira, „wir wollen, dass unsere Leute mit eigener Stimme schreiben“. Ähnliches gilt für die grafische Gestaltung, Farbe kommt nur über Anzeigen ins Blatt. Viel Wert wird auf großformatige Fotos in Schwarzweiß gelegt. „Die subjektive Perspektive liegt uns am Herzen“, sagt Fotograf Sandro Pereyra. Die aufgeräumte Titelseite ist Programm: ein ungewöhnliches Foto, eine originelle Titelzeile, dazu kleine Hinweise auf die wichtigsten Artikel. Eigentlich bestens geeignet für den Verkauf am Kiosk – „aber das machen wir nur zu fairen Bedingungen, und so weit sind wir noch nicht“, betont Osta.

Im Gegensatz zu vielen Medien auf dem Subkontinent, die sich selbst als links verstehen, wird in der Zeitung nicht mit Kritik an fortschrittlichen Regierungen gespart, politische Gefangene in Kuba oder die Fallstricke „sozialistischer“ Wirtschaftspolitik in Venezuela sind kein Tabu. „Aber wir wollen auch das Zerrbild korrigieren, das die großen westlichen Agenturen und die kommerziellen Medien von den linken, angeblich populistischen Präsidenten zeichnen“, sagt Chefredakteur Pereira, der zuvor 20 Jahre lang Redakteur bei der linken Wochenzeitung Brecha war. „Einmal hatten wir einen Schach spielenden Evo Morales auf der Titelseite, als Kontrapunkt zu jenen, die ihn gerne als halben Analphabeten darstellen.“

Auch die eigene Regierung wird mit kritischer Sympathie – und gebührender Distanz begleitet. Seit 2005 regiert in Uruguay das Linksbündnis „Frente Amplio“ (Breite Front). Als der wirtschaftsliberale Flügel unter dem heutigen Vizepräsidenten Danilo Astori auf ein Freihandelsabkommen mit den USA hinarbeitete, stellte sich la diaria dagegen. Als ein Vorvertrag unterzeichnet wurde, erschien statt des Schriftzugs la diaria der ins Englische übersetzte Titel „she-daily“ samt Micky-Maus-Bus in Montevideo und der Schlagzeile „It’s carnival!“. Inzwischen ist das Freihandelsabkommen ad acta gelegt.

La diaria hat den Nerv jener Generation getroffen, die politisch in den neoliberalen 1990er Jahren sozialisiert wurde: Ideologie ist out, aber unpolitisch ist man deshalb noch lange nicht. „Wir sind weder regierungshörig noch stehen wir irgendeiner Gruppe der Frente nahe“, sagt Osta. Leitartikel gibt es nicht, die undogmatisch-linke Ausrichtung des Blattes zeigt sich eher zwischen den Zeilen, eine Kommentarseite gibt es nicht. „Mit Manifesten halten wir uns zurück, die Leute sollen selbst zu ihrer Meinung finden“, sagt Marcelo Pereira – eine deutliche Abkehr vom klassisch-linken Journalismus à la Brecha, deren Macher männlicher und eine Generation älter sind als die fast 30-köpfige, nahezu paritätisch besetzte diaria-Redaktion. Drei der acht Ressorts werden von Frauen geleitet. Frauen- und Umweltthemen, in der Politik wie in den herkömmlichen Medien ziemlich unterbelichtet, spielen in der diaria eine wichtige Rolle. Zu den Highlights gehören die thematischen Beilagen: jeweils acht Seiten zu Klimawandel, Energiefragen oder Wassertag, aber auch zu heimischer Rockmusik oder zur Fußball-WM. 30 Prozent der Einnahmen stammen aus Anzeigen.

La diaria möchte alles andere als ein Nischenprodukt sein. „Von Anfang an wollten wir, mit Gramsci gesprochen, am Aufbau einer kulturellen Hegemonie der Linken mitwirken, besonders unter den Jüngeren“, erinnert sich Pereira. Obwohl die Auflagen gering sind, sind Printmedien in Uruguay die Hauptquellen für Radio- und Fernsehsender oder Internetportale. Immer öfter gelingt es der diaria, die Debatten mitzubestimmen, etwa bei der Aufarbeitung der Militärdiktatur (1973–85).

In der lateinamerikanischen Medienlandschaft bleibt die unabhängige diaria eine große Ausnahme. Fast alle Tageszeitungen sind eng mit mächtigen Wirtschaftskonzernen verknüpft, ihre Ausrichtung ist liberal bis konservativ. Die Präsidenten Venezuelas, Ecuadors und Boliviens versuchen der Hegemonie der „bürgerlichen“ Medien regierungsnahe Blätter entgegenzusetzen – mit mäßigem Erfolg. Die einzige wirkliche Parallele in der spanischsprachigen Welt ist Público. Bei la diaria stellten 40 „Aktionäre“, darunter Autoren wie Eduardo Galeano und Mario Benedetti, das Startkapital zur Verfügung, die ersten PCs kamen gebraucht als Spende aus Skandinavien. Oberstes Gremium ist die Vollversammlung, die Führungsposten werden in geheimer Wahl besetzt. Die wichtigsten Entscheidungen trifft die Belegschaft, bei der ersten Krise verordnete man sich eine Lohnkürzung.

„Um unser Überleben müssen wir nicht mehr fürchten, aber chronisch unterfinanziert sind wir immer noch“, sagt Damián Osta. Korrespondenten kann man sich noch nicht leisten. Die Redakteure könnten anderswo viel mehr verdienen. Doch seit der Gründung hätten nur „zwei oder drei“ diesen Schritt getan, fügt Marcelo Pereira stolz hinzu: „Die Leute bleiben, weil sie hier frei sind.“