: Der Koffer meines Vaters
An diesem Sonntag erhält Orhan Pamuk den Literaturnobelpreis. Traditionsgemäß hielt der Preisträger bereits am Donnerstag seine Nobelvorlesung, die wir hiermit dokumentieren. Aus einem privaten Requisit zaubert der Autor seine ganze Poetik hervor, inklusive Rollenbestimmung in der Gesellschaft
VON ORHAN PAMUK
Zwei Jahre vor seinem Tod übergab mir mein Vater einen kleinen Koffer, der Texte von ihm enthielt, Manuskripte, Hefte. In dem spöttischen Ton, der ihm so eigen war, sagte er zu mir, ich solle doch nach seinem Tod diese Sachen einmal lesen.
„Dann kannst du ja sehen“, sagte er leicht verlegen, „ob irgendetwas Brauchbares darunter ist, das sich dann veröffentlichen ließe.“
Ich weiß noch gut, wie ich damals, nachdem mein Vater gegangen war, einige Tage lang an dem Koffer vorbeischlich, ohne ihn auch nur zu anzufassen. Dieser Koffer war mir ein wohlbekannter, reizvoller Gegenstand, der viel mit Vergangenheit und Kindheitserinnerungen zu tun hatte, und dennoch vermochte ich ihn nicht einmal zu berühren. Warum aber dies? Vermutlich lag es daran, dass der Kofferinhalt mir von geheimnisvoller Bedeutung schien.
Von dieser Bedeutung möchte ich hier nun sprechen. Davon nämlich, was ein Mensch betreibt, der sich in ein Zimmer zurückzieht, sich an einen Tisch setzt und versucht, mit Papier und Stift Zeugnis von sich abzulegen: Literatur.
Wenn ich es auch nicht über mich brachte, den Koffer zu öffnen, so waren mir doch einige der Hefte bekannt, die er enthielt, da ich meinen Vater darin hatte schreiben sehen. Überhaupt war mir die Art des Kofferinhalts nichts grundsätzlich Neues. Mein Vater besaß eine umfangreiche Bibliothek, hatte als junger Mann, gegen Ende der 40er-Jahre, in Istanbul Dichter werden wollen, hatte Paul Valéry ins Türkische übertragen, es aber schließlich nicht auf sich nehmen wollen, in einem rückständigen, an Lesern armen Land das harte Dasein eines Poeten zu führen. Er liebte nun mal das Leben in all seiner Schönheit, und das verstand ich durchaus.
Was mich vom Inhalt des Koffers zunächst einmal fernhielt, war natürlich die Furcht, mir werde nicht gefallen, was dort zu lesen wäre. Noch mehr aber fürchtete ich die Erkenntnis, mein Vater könne womöglich ein guter Schriftsteller gewesen sein. Was mich davon abhielt, den Koffer zu öffnen, war im tiefsten Grunde dies. Noch dazu konnte ich mir diesen Grund nicht eingestehen. Denn wäre aus dem Koffer meines Vaters echte, wahrhaftige Literatur zum Vorschein gekommen, so hätte ich in meinem Vater eine ganz andere Persönlichkeit sehen müssen. Das war ein furchtbarer Gedanke. Denn obwohl ich in fortgeschrittenen Jahren war, sollte mein Vater für mich nur mein Vater sein, und nicht etwa ein Schriftsteller.
Schriftsteller zu sein bedeutet für mich, dass man in sich selbst eine zweite, verborgene Persönlichkeit entdeckt und in jahrelanger geduldiger Mühe diese und ihr Umfeld sich herausschälen lässt. Und bei dem Wort Schreiben fallen mir nicht zuerst Romane, Gedichte und literarische Traditionen ein, sondern vielmehr der Mensch, der sich allein an einen Tisch setzt, in sich hineinhorcht und mit Worten eine neue Welt erschafft. Er kann dabei Kaffee oder Tee trinken, rauchen, sich hin und wieder vom Schreibtisch erheben und zum Fenster hinaussehen, auf draußen spielende Kinder, eine dunkle Mauer oder, wenn er Glück hat, auf Bäume oder eine schöne Aussicht. Er kann Gedichte schreiben, Theaterstücke oder wie ich Romane. All diese Unterschiede aber entfalten sich erst auf der Grundlage der eigentlichen Tätigkeit, nämlich der Tatsache, dass man sich an einen Tisch setzt und sich geduldig dem eigenen Inneren zukehrt. Schreiben bedeutet, dass man die innere Einkehr in Worte fasst, dass man aus sich heraus voller Geduld, Hartnäckigkeit und Freude an einer neuen Welt arbeitet.
Das Geheimnis des Schreibens liegt für mich daher nicht in einer von irgendwoher kommenden Inspiration, sondern in Hartnäckigkeit und Geduld. Die schöne türkische Redensart „mit einer Nadel einen Brunnen graben“ könnte eigens für Schriftsteller geprägt worden sein. Seit je bewundere und begreife ich die Geduld des Märchenhelden Ferhat, der um der Liebe willen einen Berg durchbohrt. Als ich in dem Roman „Rot ist mein Name“ von alten persischen Miniaturenmalern erzählte, die in jahrelanger leidenschaftlicher Übung immer wieder ein und dasselbe Pferd zeichneten, bis sie es schließlich auch mit geschlossenen Augen abbilden konnten, da war mir bewusst, dass ich eigentlich vom Beruf des Schriftstellers und von meinem Leben sprach. Um das eigene Leben allmählich als die Geschichte anderer Personen zu erzählen und in sich die entsprechende Erzählkraft zu verspüren, muss man, denke ich, dieser Kunst und diesem Handwerk geduldig viele am Schreibtisch verbrachte Jahre schenken und dabei einen gewissen Optimismus entwickeln. Die Muse, die manchem nie und manch anderem recht oft erscheint, liebt nämlich dieses Vertrauen und diesen Optimismus, und wenn der Schriftsteller sich gerade am allereinsamsten fühlt und am allermeisten an seinem Streben und Träumen und Schreiben zweifelt und meint, die Geschichte, an der er arbeitet, sei einzig und allein seine eigene Geschichte, dann kommt die Muse und schenkt ihm quasi all die Geschichten, Bilder und Vorstellungen, die er braucht, um das stetig aus ihm heraus Quellende mit der Welt zu verbinden, die er gerade ersinnt.
Ich traute mich nicht, den Koffer meines Vaters zu öffnen und seine Hefte zu lesen, denn ich wusste, dass mein Vater nicht die Einsamkeit liebte, sondern ganz im Gegenteil Geselligkeit, seinen Freundeskreis, Salongespräche und Scherze, so dass er den Mühen, denen ich mich unterzog, gänzlich abhold war. Dann aber kam ich auf einen anderen Gedanken: All diese Vorstellungen von Selbstkasteiung und Geduld konnten ja auch lediglich Vorurteile sein, die ich aus meiner ganz persönlichen Lebens- und Schreiberfahrung bezog. Schließlich gab es doch eine ganze Reihe von glänzenden Autoren, die umgeben von Freunden im munteren Familienkreise lebten und im Gemeinschaftsgefühl geradezu badeten. Und außerdem war mein Vater, als ich noch ein Kind war, vor den Niederungen des Familienlebens nach Paris geflohen und hatte dort in einem Hotelzimmer – wie viele andere Schriftsteller – Heft um Heft vollgeschrieben. Ich wusste, dass ein Teil dieser Hefte in dem Koffer enthalten war, denn bereits Jahre zuvor hatte mein Vater begonnen, mir von diesem Abschnitt seines Lebens zu erzählen. Schon in meiner Kindheit hatte er diese Jahre erwähnt, damals aber ohne von seiner Verletzlichkeit zu berichten, von seinem Wunsch, Dichter zu werden, oder der Identitätskrise, die er in Pariser Hotelzimmern durchlitt. Er erzählte vielmehr, wie er in den Straßen von Paris oft auf Sartre gestoßen war; und über die Bücher, die er damals gelesen, und die Filme, die er gesehen hatte, sprach er mit der Leidenschaft von jemand, der eine wichtige Botschaft zu vermitteln hat. Dass ich selbst zum Schriftsteller geworden war, schuldete ich nicht zuletzt auch einem Vater, der zu Hause weit mehr von den Schriftstellern der Weltliteratur sprach als etwa von militärischen oder religiösen Führern.
Wenn mein Vater auf dem Sofa vor seiner Bibliothek lag, ließ er manchmal sein Buch oder seine Zeitschrift sinken und verfiel in langes Denken und Träumen. Sein Gesicht nahm dann einen ganz anderen Ausdruck an als sonst, wenn er am familiären Scherzen, Necken und Zanken teilnahm, und hatte etwas ganz nach innen Gewandtes, aus dem ich vor allem in jungen Jahren sorgenvoll schloss, meinen Vater müsse etwas bedrücken. Heute dagegen weiß ich, dass gerade diese Art von Bedrücktheit einer der Haupttriebe ist, die aus einem Menschen einen Schriftsteller machen. Um Schriftsteller zu werden, müssen wir – bevor noch Geduld und Leiden ihr Werk tun können – in uns den Drang verspüren, vor dem Leben in der Gemeinschaft, dem Alltag, dem Jedermannserleben wegzulaufen und uns allein in ein Zimmer zu sperren. Geduld und Hoffnung brauchen wir erst dann, damit unser Schreiben in tiefe Dimensionen reicht. Unser erster Antrieb aber ist der Wunsch, uns in ein Zimmer zurückzuziehen, ein Zimmer voller Bücher. Und so sehe ich mich auch heute in der Tradition jener Autoren stehen, die – sei es nun im Westen oder im Osten – sich von ihrer Gemeinschaft lösen und sich allein in ihre Kammer setzen.
So einsam, wie man vermuten könnte, sind wir dort aber nicht. Zur Seite stehen uns die Worte, die Geschichten, die Bücher von anderen, die literarische Tradition. Die Literatur ist meiner Ansicht nach das Wertvollste, was der Mensch geschaffen hat, um sich selbst zu verstehen. Menschlichen Gesellschaften, Stämmen, Völkern gelingt es in dem Maße, sich kulturell weiterzuentwickeln, in dem sie ihre Literatur ernst nehmen und auf ihre Schriftsteller lauschen, und bekanntlich ist es ein Vorbote dunkler, törichter Zeiten, wenn in einem Land Bücher verbrannt und Schriftsteller erniedrigt werden. Dabei ist Literatur nie die Angelegenheit einer einzelnen Nation. Der Schriftsteller, der sich zurückzieht und erst einmal eine Reise in sein Inneres antritt, wird dort im Laufe der Jahre eine Grundregel guter Literatur entdecken, und zwar, dass jene aus dem Talent besteht, unsere eigene Geschichte als die Geschichte anderer zu erzählen und die Geschichte anderer als unsere eigene. Und dazu brauchen wir als Ausgangspunkt die Geschichten und Bücher anderer Menschen.
Sowohl das Leben als auch die Literatur vermittelten mir das Grundgefühl, „nicht im Zentrum zu stehen“. Es gab im Zentrum der Welt ein Leben, das reichhaltiger und lebenswerter war als das unsere und von dem ich wie alle Istanbuler und überhaupt alle Türken von vornherein ausgeschlossen war. Heute denke ich, dass der überwiegende Teil der Welt dieses Gefühl genauso empfand wie ich. Es gab außerdem eine Weltliteratur und deren ebenfalls weit von mir entferntes Zentrum. Eigentlich meinte ich mit Weltliteratur damals die westliche Literatur, und wir Türken waren auch von ihr ausgeschlossen. Die Bibliothek meines Vaters bestätigte mir das nur. Sie bestand zum einen aus heimischer Literatur und Büchern über Istanbul, in deren Details ich mich auch heute noch mit unvermindertem Behagen verliere, und zum anderen aus Bänden der westlichen Literatur, die der unseren so gar nicht ähnelte, was uns Anlass zu Betrübnis, aber auch zu Hoffnung gab. Lesen und schreiben bedeutete, aus der einen Welt herauszutreten und in der wundersamen Verschiedenheit der anderen einen Trost zu finden. Ich fühlte, dass mein Vater – so wie später ich selbst – manchmal einen Roman vor allem deshalb las, um sich aus seinem eigenen Leben heraus in den Westen zu flüchten. Es kam mir auch so vor, als ob Bücher etwas seien, mit dem man über ein kulturelles Mangelgefühl hinwegzukommen sucht. Nicht nur das Lesen, sondern auch das Schreiben stellte eine Methode dar, um aus unserem Istanbuler Leben in den Westen zu gelangen. Die meisten Hefte in dem Koffer stammten aus der Zeit, als mein Vater zum Schreiben ganz bewusst nach Paris gefahren war und sich in ein Hotelzimmer eingeschlossen hatte, um erst das Ergebnis seiner Arbeit in die Türkei zurückzubringen. Als ich so vor dem Koffer stand, merkte ich, dass auch das mich unangenehm berührte. Nachdem ich mich 25 Jahre lang in mein Zimmer zurückgezogen hatte, um in der Türkei als Schriftsteller bestehen zu können, kam nun beim Anblick dieses Koffers in mir ein Unmut dagegen auf, dass ein Schriftsteller, um so zu schreiben, wie es ihm beliebt, sich vor der Gesellschaft, dem Staat, der Nation quasi verstecken muss. Vielleicht war ich gerade deswegen meinem Vater dafür böse, dass er das Schreiben nicht so ernst genommen hatte wie ich.
Diese Fragen waren der erste Antrieb, der mich schließlich dazu brachte, den Koffer zu öffnen. An den Texten, die ich hie und da ein wenig anlas, befremdete mich ein gewisser Ton, den ich nicht als den Ton meines Vaters erkannte. Er klang nicht authentisch oder gehörte zumindest nicht zu der Person, die mir als mein authentischer Vater galt. Es steckte da eine Furcht in mir, die mich noch mehr bedrückte als das Gefühl, mein Vater könne als Schriftsteller nicht mein Vater sein. Meine grundsätzliche Furcht vor dem Nicht-Authentischen war schlimmer als die Befürchtung, die Texte meines Vaters misslungen zu finden oder festzustellen, dass mein Vater sich zu sehr von diesem oder jenem Schriftsteller habe beeinflussen lassen. Vor allem in jüngeren Jahren wuchs sich diese Furcht zu einer wahren Authentizitätskrise aus, die mich meine ganze Existenz, mein Leben, meinen Schreibwunsch und meine Texte beständig hinterfragen ließ.
Damit sind die beiden Grundgefühle angesprochen, die der Koffer in mir auslöste: zum einen das Gefühl des Provinzialismus und zum anderen die Sorge um die Authentizität. Natürlich war es nicht das erste Mal, dass ich dergleichen empfand. Ich hatte diese Gefühle in all ihren Ausprägungen, ihren Nebeneffekten und ihrer farblichen Vielfalt bis in ihre Nervenenden und Verknotungen hinein durch jahrelanges Lesen und Schreiben analysiert, seziert und vertieft. Vor allem in jüngeren Jahren hatte ich sie als unbestimmte Seelenschmerzen und stimmungsverderbende Empfindlichkeiten kennengelernt, als Verwirrungen, die hin und wieder aus Leben und Literatur auf mich einströmten. Eine echte Auseinandersetzung damit fand aber erst statt, als ich jene Gefühle literarisch verarbeitete (die Provinzialität in „Schnee“ und in „Istanbul“, die Sorge um die Authentizität in „Rot ist mein Name“ und im „Schwarzen Buch“). Schriftsteller zu sein, bedeutet für mich somit auch, die geheimen Wunden, die wir in uns tragen und von denen wir höchstens in Ansätzen wissen, zu erkennen, uns geduldig damit auseinanderzusetzen, sie herauszuarbeiten und sie zu einem ganz bewussten Teil unseres Schreibens und unserer Persönlichkeit zu machen.
Schreiben bedeutet ferner, etwas auszudrücken, was jeder weiß, ohne zu wissen, dass er es weiß. Wir entdecken dieses Wissen, entwickeln es weiter, teilen es mit anderen und vermitteln damit dem Leser den Genuss, sich in einer wohlvertrauten Welt dennoch voller Erstaunen zu bewegen. Der Schriftsteller, der in seinem Zimmer durch jahrelange Übung dieses Talent entfaltet und eine eigene Welt zu formen sucht, geht dabei von seinen eigenen Wunden aus und bringt damit bewusst oder unbewusst den Menschen ein tiefes Vertrauen entgegen. So habe ich stets darauf gezählt, dass auch andere Menschen die gleichen Wunden in sich tragen wie ich und ich deshalb verstanden werde. Jegliche wahre Literatur baut auf dem kindlichen Urvertrauen auf, dass die Menschen sich gleichen. Und wer sich jahrelang zurückzieht und schreibt, der wendet sich an diese Menschheit und an eine Welt ohne festes Zentrum.
Wie jedoch aus dem Koffer meines Vaters und natürlich auch aus den verblassten Farben unseres Istanbuler Lebens hervorgeht, gibt es sehr wohl ein Zentrum der Welt, das weit von uns entfernt ist. Auf das Provinzgefühl, das man wegen dieser Grundgegebenheit oft auf Tschechow’sche Weise erlebt, und auf die Authentizitätsangst, die als ihr Nebenprodukt auftritt, bin ich in meinen Büchern oft eingegangen. Ich weiß auch aus eigenem Erleben, dass der größte Teil der Weltbevölkerung diese Gefühle teilt und sich auch mit gravierenderen Phänomenen wie Diskriminierung und Furcht vor Erniedrigung herumschlägt. Selbstverständlich besteht die Hauptsorge der Menschheit nach wie vor im Problem der Nahrung und Behausung. Davon aber künden heute das Fernsehen und die Presse viel schneller und leichter als die Literatur. Was die Literatur heute in erster Linie erzählen und erforschen sollte, das ist der Menschheit grundsätzliches Problem, nämlich Minderwertigkeitsgefühle, die Furcht, ausgeschlossen und unbedeutend zu sein, verletzter Nationalstolz, Empfindlichkeiten, verschiedenste Arten von Groll und grundsätzlichem Argwohn, nicht enden wollende Erniedrigungsfantasien und damit einhergehend nationalistische Prahlerei und Überheblichkeit.
Diese Fantasien, die meist auf irrationale und überschwängliche Weise ausgedrückt werden, verstehe ich nur allzu gut, sobald ich ins Dunkel meiner eigenen Seele blicke. In der außerwestlichen Welt, mit der ich mich ohne weiteres identifizieren kann, können wir immer wieder beobachten, dass die Empfindlichkeit von Menschenmassen und ganzen Völkerschaften sich in Befürchtungen niederschlägt, die geradezu an Dummheit grenzen. In der westlichen Welt wiederum, mit der ich mich nicht weniger leicht identifiziere, führen Reichtum sowie der Stolz darauf, an der Wiege von Renaissance, Aufklärung und Moderne gestanden zu haben, bisweilen dazu, dass man sich mit ähnlicher Einfalt viel zu viel auf sich einbildet. Die Hassliebe, mit der Dostojewski sein Leben lang dem Westen begegnete, habe auch ich mitunter verspürt. Doch habe ich bei dem Dichter eine Lektion gelernt, die mich positiv stimmt, denn wenn Dostojewski auch von dieser Hassliebe ausging, so schuf er doch eine weit darüber hinausgehende Welt.
Im Gegensatz zu früher ist für mich heute Istanbul das Zentrum der Welt, und zwar nicht nur deshalb, weil ich hier fast mein ganzes Leben verbracht habe, sondern auch, weil ich seit 33 Jahren die Straßen, die Brücken, die Menschen, die Hunde, die Moscheen, die Brunnen, die seltsamen Helden, die Läden, die bekannten Persönlichkeiten, die wunden Punkte, die Tage und Nächte dieser Stadt beschreibe und mich stets mit alledem identifiziere. Und die Welt, die ich geduldig ersonnen habe, so wie man „mit einer Nadel einen Brunnen gräbt“, kommt mir dann wirklicher vor als alles andere.
Nun, dachte ich beim Betrachten des Koffers möglichst vorurteilsfrei, vielleicht sind die Freuden des unverdrossen schaffenden Schriftstellers ja auch meinem Vater zuteil geworden. Nicht zuletzt war ich ihm dafür dankbar, dass er nie ein strenger und strafender Vater gewesen war, nie ein Unterdrücker, und dass er mir stets meine Freiheiten gelassen und meine Persönlichkeit geachtet hatte.
Meiner Fantasie kindhaft freien Lauf zu lassen, war mir vielleicht nur deshalb möglich, weil ich im Gegensatz zu den meisten meiner Freunde ohne Angst vor dem Vater groß geworden war, und manchmal war ich auch überzeugt, dass ich nur deshalb Schriftsteller werden konnte, weil mein Vater es einst hatte auch werden wollen. So musste ich also nachsichtig an diese Texte herangehen und versuchen, sie zu verstehen.
Derart gewappnet öffnete ich endlich den Koffer, der seit Tagen am gleichen Fleck stand, entnahm ihm einige Hefte und begann unter Aufbietung meines ganzen Willens zu lesen. Was mein Vater geschrieben hatte? Ich kann mich an Beschreibungen von Hotelzimmerblicken erinnern, an Gedichte, Aporien, Syllogismen … Ich fühle mich nun wie jemand, der nach einem schweren Verkehrsunfall nicht genau weiß, was ihm passiert ist, und es so genau auch gar nicht wissen will. Wenn in meiner Kindheit die Eltern am Rande eines Streits waren und wieder einmal tödliches Schweigen ausbrach, schaltete mein Vater immer sofort das Radio an, und die Musik ließ uns das Vorgefallene schneller vergessen.
Die Funktion dieser Musik sollen jetzt ein paar launige Worte erfüllen, mit denen ich das Thema wechsle. Wie Sie wissen, lautet die Lieblingsfrage an Schriftsteller: Warum schreiben Sie eigentlich? Nun, ich schreibe, weil ich Lust dazu habe! Ich schreibe, weil ich nicht wie die anderen eine normale Arbeit machen kann. Ich schreibe, weil ich Ihnen und allen anderen sehr böse bin. Ich schreibe, weil ich gerne den ganzen Tag schreibend auf meinem Zimmer sitze. Ich schreibe, weil ich die Wirklichkeit nur ertrage, wenn ich sie verändern kann. Ich schreibe, weil die ganze Welt wissen soll, was wir, ich und die anderen, in Istanbul, in der Türkei für ein Leben führen. Ich schreibe, weil ich den Geruch von Stift und Tinte liebe. Ich schreibe, weil ich an nichts so sehr glaube wie an die Literatur und den Roman. Ich schreibe, weil es mir Gewohnheit und Leidenschaft geworden ist. Ich schreibe, weil ich fürchte, vergessen zu werden. Ich schreibe, weil es mir Ruhm und Anteilnahme bringt. Ich schreibe, um allein sein zu können. Ich schreibe, um herauszufinden, warum ich Ihnen und allen anderen so böse bin. Ich schreibe, weil es mich freut, gelesen zu werden. Ich schreibe, weil ich einen Roman, einen Artikel, eine Seite angefangen habe und nun fertig bekommen will. Ich schreibe, weil das jeder von mir erwartet. Ich schreibe, weil ich in kindlicher Manier an die Unsterblichkeit von Bibliotheken und an meine Bücher in ihren Regalen glaube. Ich schreibe, weil das Leben, weil die Welt, weil einfach alles unglaublich schön und überraschend ist. Ich schreibe, weil es Freude macht, diese Schönheit und diesen Reichtum in Worte zu fassen. Ich schreibe, weil ich eine Geschichte nicht erzählen, sondern erschaffen will. Ich schreibe, um das Gefühl loszuwerden, dass es irgendwo einen Ort gibt, an den ich – wie in einem Traum – niemals gelangen kann. Ich schreibe, weil ich nicht glücklich sein kann. Ich schreibe, um glücklich zu sein.
Eine Woche, nachdem mein Vater den Koffer in meinem Arbeitszimmer gelassen hatte, kam er mich wieder besuchen, wie immer (ungeachtet meiner 48 Jahre) mit einer Tafel Schokolade in der Hand. Und wie immer sprachen und scherzten wir über alles Mögliche, über Politik, über Familiengeschichten. Da fiel der Blick meines Vaters auf die Stelle, an der er seinen Koffer abgestellt hatte; der Koffer war nicht mehr da. Wir sahen uns an. Es entstand ein peinliches Schweigen. Ich sagte nicht, dass ich in den Heften gelesen hatte, und wandte den Blick ab. Er verstand jedoch, und das verstand ich, was wiederum er verstand. Das ging so hin und her, aber nur ein paar Sekunden lang, denn mein Vater war ein glücklicher Mensch voller Selbstvertrauen und tat somit, was er immer tat: Er lachte. Und als er wieder ging, sagte er mir wie jedes Mal väterlich aufmunternde Worte.
Ich sah ihm noch hinterher, wie stets voller Neid auf sein unbeschwertes, lebensfrohes Wesen. Doch weiß ich noch, dass sich an jenem Tag in mir auch ein schmähliches Glücksgefühl regte. Es war, wie sich denken lässt, das Gefühl, vielleicht nicht so ein ruhiges, sorgloses Leben geführt zu haben wie er, stattdessen aber den Anforderungen der Literatur genügt zu haben. Ich schämte mich für dieses Gefühl. Hatte mein Vater mir doch, statt mir als Unterdrücker zum Lebensmittelpunkt zu werden, stets meine Freiheit gelassen. All dieses lehrt uns, dass das Schreiben und die Literatur zutiefst mit einem Mangel in unserem Innersten sowie mit Glücks- und Schuldgefühlen verbunden sind.
Im Dezember 2002 verstarb mein Vater.
Sehr verehrte Mitglieder der Schwedischen Akademie, die Sie mir diesen Preis und diese große Ehre zugesprochen haben, sehr verehrte Gäste, ich hätte sehr gewollt, dass mein Vater heute unter uns wäre.
Gekürzte Fassung. Aus dem Türkischen von Gerhard Meier. Copyright © The Nobel Foundation 2006