Wann ist Havers dran?

Lady Helen ist tot und Inspektor Lynley seinen Job los. Aber Elizabeth George schreibt weiter. Ein Treffen mit der Queen of Crime

VON SUSANNE STIEFEL

„Ich konnte Lady Helen sowieso nie leiden, diese Aristokratenzicke.“ – „Gut jedenfalls, dass nicht Havers ermordet wurde.“– „Oh Gott, nein, auf Barbara kann ich auf keinen Fall verzichten.“ – „Aber wann darf sie endlich Sex haben?“

So reden Experten. Gleichgesinnte wissen sofort, wovon die Rede ist. Von Elizabeth Georges Krimikosmos nämlich. Von dem Ermittler- und Freundeskreis um Inspektor Thomas Lynley, seiner Frau Lady Helen und Sergeant Barbara Havers, auf deren Verwicklungen die Leser genauso brennen wie auf die Aufklärung der Morde selbst.

Doch jetzt ist genau dieser Kosmos in Gefahr. Und Havers Sexträume bleiben vielleicht für immer unerfüllt. Ohne mit der Wimper zu zucken, hat die amerikanische Autorin in ihrem jüngsten in Deutschland erschienen Titel der Krimiserie eine ihrer eigenen Hauptpersonen um die Ecke gebracht. Lady Helen, frisch verheiratet mit Lynley und gerade schwanger mit seinem Kind, wurde von ein paar Straßenkids erschossen. Kaltblütig, berechnend und ohne Erbarmen. Und Lynley selbst hat erst mal den Dienst quittiert. Nur weil die 57-jährige Queen of Crime nach zwanzig Jahren beschloss, dass etwas passieren müsse in der Welt des adligen Ermittlers Lord Lynley und seiner Unterschichtsassistentin Barbara Havers.

„Ich wollte die Geschichte öffnen“, sagt Elizabeth George beim Interview in einem Stuttgarter Hotel und lächelt kühl. Der Tod als Anfang, als Beginn von etwas Neuem.

Haben Sie Lady Helen gehasst, Frau George? „Wie kommen Sie darauf?“, fragt die Schriftstellerin zurück, die von sich selbst sagt, dass ihre Charaktere immer auch Facetten ihrer eigenen Persönlichkeit spiegeln. Mit Simon St. James teile sie die Bildung, mit Barbara Havers die Ironie, mit Deborah die Melancholie und mit Lord Lynley die Tendenz zu Gefühlen. „Auch wenn ich meine Gefühle besser unter Kontrolle habe als er“, fügt sie bestimmt hinzu. Da dürfte ihr die unentschiedene, naive Lady Helen wohl eher fremd geblieben sein.

Elizabeth George ist eine disziplinierte Frau. Sie steht morgens um fünf auf, schwingt sich eine Stunde auf den Hometrainer und schreibt dann mindestens fünf Seiten an ihrem neuen Buch. Jeden Tag. Ohne Pardon. Unbeirrt. Sie braucht diese starren Schienen, auf denen ihr Leben läuft. Diese rigide Ordnung, die ihrem Alltag eine Struktur gibt. „Unordnung zerstört meinen Seelenfrieden, es ist, als ob mein Leben außer Kontrolle geriete“, sagt sie in erstaunlicher Offenheit. Elizabeth George, die in ihren Krimis jegliche Ordnung und seelische Balance genüsslich zerstört, ringt täglich um die eigene Ausgeglichenheit. Sie mordet, um sich ihren Seelenfrieden zu erhalten.

Dabei denkt Elizabeth George eigentlich ungern über sich selbst nach. In Gesprächen ist sie diejenige, die andere zum Reden bringt, ihnen ihre kleinen und großen Geheimnisse entlockt. Ihre Ängste oder einfach erstaunliche Erlebnisse und bizarre Erfahrungen, die manchmal Jahre später in ihre Krimis einfließen. „Ich will meine Freunde nicht ausnutzen“, sagt die Anekdotendiebin, „aber ich habe einen Blick für Skurriles.“ Manchmal dauert es Jahre, bis so ein Diebstahl in einem Buch auftaucht. Wie die Geschichte einer pakistanischen Freundin, deren Mutter nur zwölf Jahre älter war als die Tochter. Sie war im Alter von elf Jahren verheiratet worden. In ihrem neuesten Roman, der bisher noch nicht ins Deutsche übersetzt ist, wird diese biografische Besonderheit lebendig in der pakistanischen Kindergärtnerin Mahjid.

„What came before he shot her“, heißt der Roman, der Lady-Helen-Fans – ja, die soll es auch geben in der Elizabeth-George-Gemeinde – erklärt, wie es zu dem absurden Mord kommen konnte. Immerhin hatte die Autorin haufenweise empörte Zuschriften bekommen und viele Leser erklären, die jüngeren Werke der Autoren seien längst nicht mehr so gut.

Die Stammleser der Bestsellerautorin sind bis ins kleinste Details mit den George’schen Figuren vertraut. Sie amüsieren sich, wenn Havers vor einem wichtigen Termin ihren ausgefransten Hosensaum schnell mal festtackert. Aber sie ärgern sich auch darüber, dass diese herrlich schräge, selbstironische Frau einfach keinen abbekommt.

Ein Grund für die Faszination ist sicher Elizabeth Georges Talent für sezierend scharf beobachtete Details und die psychologische Tiefe, mit der sie ihre Personen ausstattet. Das schafft Nähe. Mancher ihrer Leser würde gerne mal mit Havers ein Bier trinken gehen.

Eine anderer ist, dass die Amerikanerin es außerdem versteht, spannende Geschichten aus dem heutigen Großbritannien zu erzählen. Seit einem Shakespeare-Kurs als Schülerin hat sie sich in die Insel verguckt. Für ihre Recherchen reist sie jeweils für eine bis drei Wochen auf die andere Seite des Atlantiks.

Georges Krimis nehmen den Leser in eine andere Welt mit. In die Akademikertürme nach Cambridge oder die bigotte Welt des Kindesmissbrauchs. Der Prostitution. Keine Abgründe sind dieser Frau zu tief, keine Grausamkeit ist ihr fremd.

Wer Märchen will, darf diese Bücher nicht aufschlagen. Wer es tut, muss sich auf menschliches Extremverhalten einstellen. Darauf, dass die Grenzen zwischen Gut und Böse nicht scharf sind. Dass Menschen nicht nur nett, sondern zu allem fähig sind. George-Fans lieben diesen schaurigen Grusel.

Schon als Kind hat die kleine Elizabeth, die eigentlich Susan heißt, am liebsten die vermischten Meldungen aus aller Welt gelesen: über Kinder, die angekettet, über Frauen, die bestialisch ermordet wurden. Immer hat sie der Blick hinter die Kulissen interessiert, das Warum, die Hintergründe, die Abgründe. Elizabeth George hat nicht nur gelernt, den Menschen zuzuhören. Sie hat auch Psychologie studiert, um sie besser zu verstehen. Und vielleicht auch, um sich selbst genauer kennen zu lernen. Die Frau mit dem strengen Kurzhaarschnitt kennt ihre eigenen Abgründe.

Doch wenn sie, wie jetzt wieder, ein neues Buch vorstellt, muss sie sich eben auch den Fans stellen, und das bedeutet wieder einmal: nicht zuhören und in die Seele der anderen kriechen, sondern selber reden. Reden über Elizabeth George. Und weil sie eine disziplinierte Frau ist, sitzt sie also in diesem roten Plüschsessel im Hotel, die Beine korrekt zusammengefaltet, und beantwortet mit sparsamer Gestik und präziser, geradezu unamerikanischer Sprache Fragen. Mit ihrer zierlichen Figur und der porzellanfarbenen Haut wirkt sie dabei wie eine britische Hausfrau, die es nicht nötig hat, bei fremden Leuten arbeiten zu gehen.

Doch selbst wenn Tournee ist, schreibt sie fünf Seiten am Tag, an diesem Tag sogar einige mehr, weil sie bereits um vier Uhr aufgewacht ist. Elizabeth George liebt eine drastische Sprache ebenso wie Untergangsszenarien („Die Menschen zerstören diesen Planeten mit ihren Umweltfreveln“). All dies serviert sie mit einem Lächeln, einer gewissen Selbstironie und einer Portion Sarkasmus wie ihr unvermitteltes Geständnis: „Schreiben hält mich davon ab, depressiv zu werden.“

Wie bitte? Mord als Therapie? Blutrünstige Geschichten als mentaler Gesundbrunnen? Ja, gesteht die erfolgreiche Krimiautorin. Die Autorin, die in in ihren Romanen tief in Herz und Seele ihrer Charaktere abtaucht, macht auch bei sich nicht Halt. Schon als Kind hat George gemerkt, dass Schreiben für sie lebensnotwendig ist: „Ich habe mich in der fiktiven Welt immer am wohlsten gefühlt. Irgendwie ganz und gar, so völlig anders als im wirklichen Leben.“ Wenn sie nicht kreativ ist, merkt die Schriftstellerin, wie die Depression sie krallt und lähmt. Das versucht sie geradezu panisch durch minutiöse Lebensplanung zu vermeiden. Und wenn es der Spannung dient, müssen eben auch Hauptpersonen wie Lady Helen sterben. Es ist ein bisschen wie Gott spielen.

Angefangen hat das, als ihr erster Mann 1983 einen Computer kaufte. Darauf schrieb Elizabeth George ihren ersten Roman „Gott schütze dieses Haus“. Eine Zeitlang unterrichtete die gelernte Englischlehrerin noch weiter an Schulen und Universitäten, dann nur noch wenige Studenten in Creative Writing in ihrem Haus. Inzwischen schreibt sie nur noch. Und ist mit ihrem zweiten Mann, einem ehemaligen Feuerwehrmann, vom Kalifornien in den Norden umgezogen, auf eine kleine Insel vor Seattle.

Mit ihrer gründlichen Besessenheit hat sich Elizabeth George längst einen Namen erschrieben. Sie gehört zur Elite der Ladies of Crime wie Agatha Christie, P. D. James oder Ruth Rendall. Jedenfalls haben Lynley und Havers, deren Ermittlungen verfilmt und auch in Deutschland ausgestrahlt werden, die Amerikanerin reich gemacht. Ihre Krimis wurden in zwanzig Sprachen übersetzt und allein in Deutschland zwölf Millionen Mal verkauft.

Und so hat sie immer schon ein neues Buch in der Mache, während sie mit dem alten noch auf Lesereisen geht. Der Roman, der im Moment entsteht, jeden Tag um fünf Seiten wächst, spielt in Cornwall in der Freeclimber-Szene. Und Lord Lynley ermittelt wieder, so viel verrät sie. Aber nicht, ob Havers endlich ihrem pakistanischen Nachbarn näherkommt.

SUSANNE STIEFEL, Jahrgang 1957, lebt in Stuttgart und ist Reporterin bei Sonntag Aktuell