Im Luxuszug zur „Stadt in den Wolken“

Machu Picchu, die alte Inka-Hochburg in Peru, begeistert Touristen aus aller Welt – solange der Nebel nicht die Sicht auf den Berg und den legendären Sonnenaufgang verdeckt. Vor knapp hundert Jahren wurde die alte Höhenstadt in den Anden wiederentdeckt und 1983 zum Weltkulturerbe erklärt

von HANS-ULRICH DILLMANN

Vor 20 Jahren drängten sich noch die Freaks in der Morgendämmerung auf dem Bahnhof San Pedro im Zentrum der peruanischen Andenstadt Cusco. Mit Jesuslatschen an den Füßen und wehenden Hemden mit Blümchenmuster rangelten sie mit den Einheimischen um die Plätze im ersten Zug nach Quillabamba. Schwere Rucksäcke konkurrierten mit den riesigen verknoteten Bündeln, die die Indio-Frauen in den Gepäckablagen unterzubringen versuchten.

Der Zug, mit dem einst die Bewohner ins Tal des Urubamba-Flusses und die Rucksacktouristen bis zum Fuß von Machu Picchu fuhren, ist inzwischen nur noch für Peruaner oder Personen zugänglich, die eine peruanische Aufenthaltsgenehmigung besitzen.

Immer wieder hatten sich die Bewohner der Region beschwert, dass die Touristen ihnen die begehrten Plätze im nur einmal am Tag verkehrenden Regionalzug wegnehmen. So hat sich der Schienenverkehr zwischen Cusco, das die Inka „zum Bauchnabel der Welt“ erkoren, und Machu Picchu, der ehemaligen Inka-Metropole hoch in den Wolken, entzerrt und „klassifiziert“.

Preiswert fahren jene, die in den Bergschluchten wohnen. Die Rucksacktouristen müssen den „Backpackerzug“ nutzen, für umgerechnet nicht ganz 60 Euro. Wer es sich leisten kann, nimmt den „Vistadome“ – den Panoramazug für fast 90 Euro. Und die Begüterten können es sich auf der Hinfahrt beim Brunch und auf der Rückfahrt bei einem Vier-Gänge-Menü für über 400 Euro im „Hiram Bingham“-Luxuszug bequem machen.

Denn Touristen haben den mystischen Ort in den Anden längst erobert. Vor knapp hundert Jahren wurde Machu Picchu wiederentdeckt und im Jahr 1983 von der Unesco zum Weltkulturerbe erklärt.

Langsam lichtet sich der Morgennebel. Kurz nach sechs Uhr sind schon hunderte Touristen mit dem Bus über die enge und steile Serpentinenschotterstraße zur Ruinenstadt aufgebrochen. Machu Picchu liegt dem Besucher im Dunst zu Füßen, 2.500 Meter über dem Meeresspiegel. Jetzt werden schemenhaft dicke Mauerruinen sichtbar. Auf dem satten, mit Morgentau benetzten Gras äsen zwischen den ehemaligen Gebäuden friedlich zahlreiche Lamas mit braunem und weißem Fell.

Auf dem oberen Aussichtsplateau haben sich touristische Heerscharen aus aller Welt versammelt. Israelische Rucksacktouristen mit Trekkingsandalen und Haarzöpfchen haben sich im feuchten Grass niedergelassen. Andächtig schauen sie dem verschwindenden Nebel nach.

Besucher aus den USA, die die Nacht in der Nobelherberge Machu Picchu Santuary Lodge verbracht haben, um den bewegenden Moment der Morgenröte über dem Machu Picchu umgebenden Bergmassiv mitzuerleben, müssen sich damit abfinden, dass sie durch eine dichte Nebelbank um ihr „großartiges Naturerlebnis“ betrogen werden. Auch einer Gruppe deutscher Peru-Besucher, die mit Wanderschuhen und Walkingstöcken auf den Inkaweg gekommen sind, verhüllen Dunstschwaden den Blick vom weit oberhalb der antiken Bergfestung gelegenen Sonnentor.

Täglich kommen etwa 2.000 Menschen auf den rund 800 Meter langen und gut 300 Meter breiten Bergsattel, der von dem „jungen Berg“, Wayna Picchu, und dem namengebenden „alten Berg“, dem Machu Picchu, in nordsüdlicher Himmelrichtung begrenzt wird. Etwa 300 Trekkingtouristen lässt die Naturschutzbehörde in kleinen Gruppen täglich den beschwerlichen Wanderweg benutzen, begleitet von einer 200-köpfigen Schar von Maultiertreibern, Gepäckträgern und Köchen.

Eine viertägige Traumwanderung auf den Spuren der Chasqui, der Inka-Stafettenläufer, vorbei an blühenden Bergwiesen und wild rauschenden Bergflüssen. Der Weg verläuft über die schon von den Inkas angelegten Treppenstufen, über Stege, schwindelerregende Hängebrücken und Wegtunnel. Er durchquert die kleineren Ruinenstätte Runqurakay, Phuyupatamarca und Wiñay Wayna. Es folgt der knapp 4.200 Meter hohe Huarmihuanusca-Pass, der Wanderer bis zur „Stadt in den Wolken“ führt.

„Warum Machu Picchu gebaut und warum sie wieder verlassen wurde, ist den Forschern noch immer ein Rätsel“, sagt der Reiseführer Germán und zeigt mit seinem Bambusstöckchen über die Steinquadermauern, die der chilenische Dichter Pablo Neruda ehrfurchtsvoll „steinerne Mutter“ genannt hat. „Es gibt eine Unzahl von Theorien, Spekulationen und Legenden, aber niemand kennt die Wahrheit.“

Vielleicht macht das gerade die Faszination des Orts aus. War sie eine Zitadelle, in die sich die Menschen bei Bedrohungen zurückzogen, wie man aus der Abgelegenheit interpretieren könnte? War es ein heiliger Ort, der dem Sonnenritus geweiht war, wie die zahlreichen Tempel vermuten lassen? Vielleicht war es eine „Enklave der Sonnenjungfrauen“, die rituell geopfert wurden. Oder war Machu Picchu einfach nur eine bäuerliche Stadt, wie die unzähligen Terrassenfelder nahe legen?

Fakt ist, dass die Inka-Metropole zwischen 1420 und 1520, im goldenen Zeitalter der Inka, erbaut und um 1532 wieder verlassen wurde, also bereits ein Jahr vor der Eroberung des Inkareichs durch die spanischen Konquistadoren. Sorgfältig haben die ehemaligen Bewohner, bevor sie die Höhenstadt verließen, alle Spuren verwischt. Erst im Jahr 1902 fand ein Bauer zufällig den Zugang zur Ruinenstadt. Er führte den US-amerikanischen Forschungsreisenden Hiram Bingham auf den Bergsattel von Machu Picchu. „Plötzlich befanden wir uns vor den Ruinen. Der Anblick verzauberte mich“, schrieb Hiram Bingham in seinen Erinnerungen.

Von den 5.000 archäologischen Funden aus Gold- und Silberschmuckstücken, Keramik und Textil von damals ist in Peru allerdings nichts mehr zu bewundern: Sie wurden an die Yale Universität „ausgeliehen“. Der archäologischen Arbeit Binghams hat die Nachwelt jedoch die Freilegung der „geheimnisvollen Bergfeste“ zu verdanken.

Die ersten Touristen kamen bereits im Jahre 1932 mit Maultier und zu Fuß hierher, erzählt Germán, während er langsam die Steinstufen zum Huaca Punku, dem Haupteingang zur Festung, hinuntersteigt.

Auch Esoterikgruppen haben die Bergregion für sich entdeckt. Eine Gruppe von US-amerikanischen Touristen um die vierzig drängt sich in der Ecke einer Hausruine, die Hände gefaltet, die Augen fest geschlossen. Im Zentrum der Gruppe liegt eine dunkelhaarige Frau auf einem Stein, der wie ein Bett aussieht. Plötzlich erhebt sie sich, breitet mit glücklich entrücktem Gesicht ihre Arme aus. „Gehen wir jetzt zum heiligen Platz und spüren die Kraft, die von dort ausgeht“, fordert sie die Gruppe auf.

Auf den Terrassenfeldern, auf denen wohl unterschiedliche Maissorten für den Speiseplan der Inka angebaut wurden, stehen hunderte von Menschen. Ihre staunenden Blicke schweifen über die Ruinenstätte, die inzwischen unter den wärmenden Sonnenstrahlen liegt. Dann verschwindet die Sonne über der „verlorenen Stadt der Inka“. Und die Nebelschwaden ziehen wieder auf.