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Archiv-Artikel

Durch den Neuruppiner Busch

TAZ-SERIE STADTFLUCHT Mehr als „Fontanestadt“ und Therme: Neuruppin ist ein guter Ausgangspunkt für ausgedehnte Wanderungen. Wenn es nicht gerade gewittert

taz-Serie Stadtflucht

■ Wer kennt das nicht: die Stadt zu laut, zu groß, zu voll. Selbst die Sommerferien sorgen längst nicht mehr für Entschleunigung, die urlaubenden BerlinerInnen werden durch Schwärme von Touristen ersetzt. Wie gut, dass wir in Berlin leben: umgeben von idealen Ausflugszielen für Kurztrips, die näher liegen, als man oft glaubt.

■ In loser Reihenfolge fahren unsere AutorInnen ins Umland und schreiben darüber. Einzige Voraussetzung: Das Ziel muss für maximal 10 Euro erreichbar sein.

■ Die Reihe begann mit einer Tramfahrt nach Rüdersdorf (4. August), es folgte eine Entdeckungstour durch Biesenthal (11. August) und eine Kanutour ab Erkner (13. August). (taz)

VON JÜRGEN KIONTKE UND BEATE WILLMS

„Kakao oder Zimt auf den Milchi?“ Was? Ach so, der Verkäufer am Kaffeestand meint den Milchkaffee. Wie er den Latte macchiato wohl nennt? „Na, Latte, wie denn sonst?“

Es ist noch zu früh für Witze, deshalb ja das Koffein. Und damit sich die Bahnfahrt wie eine Urlaubsreise anfühlt: Als wäre man im Dunkeln aufgestanden, damit man irgendwann noch im Hellen ankommt. Zum Glück dauert es von Gesundbrunnen nur eine gute Stunde bis Neuruppin.

Vom Bahnhof Rheinsberger Tor führen die Wallanlagen links in die Innenstadt. Rechts geht es überall anders hin. Zum Beispiel zum 250 Kilometer langen Ruppiner Land Rundwanderweg. Schön wäre es, wenn der ausgeschildert wäre wie versprochen: blauer Punkt auf weißem Quadrat. Aber egal, irgendwie muss die Strecke am Ufer des Ruppiner Sees entlangführen. Und den wird man ja wohl finden.

Vorbei geht es an der Fontane-Therme und durch eine Kleingartenanlage mit blauen, weißen und rosafarbenen Hortensienbüschen nicht ganz plangemäß, aber doch einigermaßen zielsicher in den Wald. Und da ist dann nicht nur die Markierung, sondern auch das Jahnbad, eine Seebadeanstalt mit langem Sandstrand, altmodischen Steganlagen und einem in die Jahre gekommenen Sprungturm. Ganz schön Zille. Auch das Publikum.

Ab und an heißt es klettern

Der Weg schlängelt sich ein Stück weit vom Ufer unter den Bäumen durch, ab und an heißt es klettern, wenn wieder ein Stamm quer über dem Weg liegt. Ist hier im letzten halben Jahr überhaupt jemand vorbeigekommen? Im Regenwald am Nordufer könnte man ostwärts nach Alt Ruppin laufen. Aber da es noch bis Boltenmühle gehen soll, wo es mit dem Kalksee das klarste Gewässer der Region gibt, ist dafür heute keine Zeit.

Erst recht nicht, nachdem man sich doch nicht mehr vormachen kann, dass das dunkle Grollen von Flugzeugen stammt. Hätte man doch die Wettervorhersage ernst genommen! Denn ein Wald ist nicht der Ort, an dem man sich bei einem bösen Gewitter aufhalten will. Äste fallen herunter, Bäume um, Blitze schlagen ein. Die Feuerwehr empfiehlt, sich in einer Senke zusammenzukauern. Ein Glück, dass Google Maps in 1,6 Kilometern eine „Waldschenke“ ankündigt.

20 immer hektischere Minuten später taucht die tatsächlich auf, wunderschön mitten im Wald und direkt am Schermützelsee platziert. Und mit eigener Schiffsanlegestelle – was sich als weiterer Glücksfall entpuppt. Denn außer noch warmem Käsekuchen hat die Kellnerin eine wichtige Info zu bieten: An Wochenenden gibt es keinen Bus von Boltenmühle. Das bedeutet: Dem blauen Punkt noch ungefähr 20 Kilometer bis Rheinsberg folgen oder halb so viel zurück nach Neuruppin laufen. Oder eben das Schiff nehmen. „In einer Stunde kommt das Ausflugsboot von Boltenmühle vorbei“, sagt Annika aus Hamburg, die mit ihrem Mann ins Ruppiner Land gekommen ist, um das neue Fahrrad auszuprobieren – sein Geburtstagsgeschenk. Leider ist der als unkaputtbar angepriesene Schwalbereifen jetzt zu platt zum flicken. Auch ihr Ausflug ist vorbei.

Bis Neuruppin hat sich das Wetter beruhigt. Also doch noch ein kleiner Rundgang. 1887 hat ein Brand große Teile der mittelalterlichen Stadt zerstört, nur die Siechenstraße mit dem alten Hospital und wenige andere Gebäude wie die Klosterkirche Sankt Trinitatis und die Stadtmauer blieben verschont. Beim Neuaufbau ging man generalstabsmäßig vor und hielt sich an ein einheitliches frühklassizistisches Muster: breite, rechtwinklig angelegte Straßen, stattliche Plätze. Da sich die heutigen Tagesbesucher an der Seepromenade drängen, bedeutet das einfach nur viel, viel Raum.

Ein Sprung in der Zeit

Auch für einen Sprung ins Wasser reicht es noch. Hinter der Promenade, wenige Meter südlich, liegt eine üppige Badewiese mit alten Bäumen. Wieder fühlt man sich zeitversetzt: Die Abendsonne leuchtet mild, die Neuruppiner kommen im Morgenrock, um beim Schwimmen Schwänen und Entenfamilien freundlich Gesellschaft zu leisten. Auf dem Rückweg am Ufer entlang dann ein jämmerliches Geräusch: ein einsames Blässhuhnküken, das nach seinen Eltern ruft. Fiep! Nicht mitanzuhören. Was tun: ins Wasser springen? Und dann: Erziehen? Unter die Flügel nehmen? Bevor es dazu kommt, ist Mutter Blässhuhn wieder da, vollgestopft mit Brotkrumen, die einer aus der Plastiktüte aufs Wasser verteilt. Die Natur ist nicht voll, sie ist verfressen.

Zeit zurückzufahren. Am Bahnhof will die Kioskbesitzerin gerade zumachen. Kein Kaffee mehr? „Aber Eis jeht noch, kalte Jetränke ooch.“ Jlück gehabt. Bis zum nächsten Mal, Neuruppin.

■ Die einfach Fahrt mit der Bahn kostet 8,20 Euro