Die Bodenständige

LICHTENBERG Seit zehn Jahren ist Christina Emmrich Bürgermeisterin. Berlinweit bekannt wurde die 63-Jährige durch den Bürgerhaushalt und ihre Sitzblockade gegen einen Neonaziaufmarsch. Am Wochenende wird die Linkspartei sie wieder als Kandidatin aufstellen

„Die Bürgermeisterin ist kein Mensch, der andere runtermacht“

EINE RATHAUSMITARBEITERIN

VON MARINA MAI

Ein Kinderfest. Christina Emmrich, die Bürgermeisterin von Lichtenberg, wird hier gleich ein Grußwort sprechen. Ein zehnjähriges Mädchen kommt auf sie zu. „Frau Emmrich, ich habe Sie in der Zeitung gesehen. Sie haben einer Frau zum 100. Geburtstag gratuliert.“ Das Kind hatte seinen ganzen Mut zusammengenommen. Emmrich, die jünger wirkt als ihre 63 Jahre, überspielt ihre Verwirrung und sagt im sächsischen Dialekt: „Ja, das stimmt, ich habe einer Frau zum 100. Geburtstag gratuliert.“ Dann findet sie anerkennende Worte für das Mädchen, das schon Zeitung liest und Anteil nimmt am Geschehen im Bezirk. Als Emmrich eine Minute später auf die Bühne tritt, lässt sie ein glückliches Kind zurück.

Lichtenbergs Bürgermeisterin versteht es, Menschen ein Stück Würde zu geben. In dem Ostbezirk mit seinen 255.000 Einwohnern und einer großen Zahl sozial Schwacher ist das besonders wichtig. Dazu wirkt die gebürtige Leipzigerin, die seit 1986 in Berlin lebt, bodenständig. Man traut der kleinen rothaarigen Frau zu, dass sie auch mal einen Putzlappen in die Hand nimmt. Sie spricht eine für eine Politikerin untypische einfache Sprache und findet zu ganz unterschiedlichen Menschen einen Draht.

Ohne Pathos

Als die Bürgermeisterin mit dem Linke-Parteibuch zum Beispiel das Team des russischen Supermarktes Stolitschniki an der Landsberger Allee besucht, bescheinigt sie den Frauen, den Laden „mit viel Herzblut und russischer Seele“ zu betreiben. Und selbst wenn in der Bezirksverordnetenversammlung (BVV) Vertreter von SPD oder Grünen ihre Vorlage zum Bürgerhaushalt kritisieren und Ergänzungen anmahnen, geht Emmrich nicht in Verteidigungshaltung. Ohne Pathos und akademische Schnörkel bedankt sie sich für „die vielen sinnvollen Vorschläge“. Parteipolitisches Polarisieren liegt ihr nicht. „Die Bürgermeisterin ist kein Mensch, der andere runtermacht“, sagt eine Rathausmitarbeiterin.

Emmrich hat mit ihrer Art Erfolg. Im September will sie sich zum dritten Mal der Wahl zur Bürgermeisterin stellen. Da ihre Partei in Lichtenberg bisher eine absolute Mehrheit hat, sind die Aussichten gut. Am Wochenende wird die Linkspartei die Lichtenberger Kandidaten fürs Landes- und Bezirksparlament nominieren. Emmrich tritt für die Spitzenposition ohne Gegenkandidaten an. „Ich bin gern Bürgermeisterin“, sagt sie im Gespräch mit der taz. „Man hat politischen Gestaltungsraum und trifft viele unterschiedliche Menschen.“

Die Gesellschaftswissenschaftlerin war in der DDR hauptamtliche Gewerkschaftsfunktionärin. Damals habe sie gelernt, sich für jedermann verständlich auszudrücken. „Die Professorin sollte mich genauso verstehen wie die Putzfrau“, so Emmrich.

Wie für viele ehemalige DDR-Bürger auch war für Emmrich das Wendejahr 1989/90 ein biografischer Einschnitt. Die Staatsgewerkschaft wurde abgewickelt, die verwitwete Mutter eines Sohnes arbeitslos. „Ich war mit Anfang 40 und mit einem fast erwachsenen Sohn in einer Lebensphase, wo DDR-Frauen noch mal richtig beruflich durchstarteten. Doch jetzt war ich für den Arbeitsmarkt zu alt.“ Emmrich engagierte sich ehrenamtlich in der PDS, wurde stellvertretende Landesvorsitzende. Nicht der Karriere willen, wie sie sagt, sondern weil ihr soziales Engagement wichtig war. „Ich habe damals alle Angebote abgelehnt, hauptamtlich in die Politik zu gehen. Ich schwor mir nach meinen Erfahrungen in der DDR, meine Brötchen unabhängig von einer Partei verdienen.“

Was Soziales tun

Viele ihrer ehemaligen Funktionärskollegen seien bei Versicherungen und Krankenkassen untergekommen. „Das war nicht mein Ding. Ich wollte mich sozial engagieren“, beschreibt sie die damalige Situation. Nach knapp zwei Jahren der Besinnung gründete sie den Verein für ambulante Versorgung, einen großen Sozialträger in Lichtenberg. Er betreibt Kitas, Pflegedienste und Obdachlosenprojekte. Emmrich wurde Geschäftsführerin.

Im Jahr 2001 brach sie ihren Schwur und trat zur Bürgermeisterschaftswahl an. Mit Erfolg. Dafür hatte sie sich durch ihr jahrelanges Ehrenamt als Bezirksverordnete empfohlen. 2006 wird sie wiedergewählt.

Ihre große Offenheit schließt eine Gruppe explizit aus: Gegenüber Rechten hat Emmrich null Toleranz. Der Bezirk hat ein Problem mit Rechtsextremen. Der Weitlingkiez war seit der Wiedervereinigung eine Neonazi-Hochburg, drei NPDler wurden 2006 in die BVV gewählt. Mit ihrem Einsatz gegen rechts macht sich Emmrich berlinweit einen Namen. Als Ende 2008 Nazis durch Lichtenberg marschierten und ein „nationales Jugendzentrum“ forderten, beteiligt sich die Bürgermeisterin an einer Sitzblockade. Sie lässt sich von Polizisten von der Straße tragen. Die Staatsanwaltschaft stellte das Strafverfahren später gegen Zahlung von 750 Euro ein.

Und als die NPD im Februar 2011 den Übergriff junger Migranten auf zwei Handwerker im U-Bahnhof Lichtenberg für sich instrumentalisieren will, ist sie im Dauereinsatz. Egal welchen Termin sie hat, ihre Sekretärin hat Anweisung, alle Anrufe zu diesem Thema sofort durchzustellen. „Nein, biografische Bezüge habe ich zu dem Nazi-Thema eigentlich nicht“, sagt Emmrich. „Aber ich kann es einfach nicht zulassen, dass die Naziideologie wieder hoffähig wird.“

Emmrich spricht gern über den Weitlingkiez, der inzwischen keine rechte Hochburg mehr ist – diesen unrühmlichen Status hat Schöneweide übernommen. Die ansonsten ruhige Frau kann sich in Rage reden, weil das Viertel noch immer das schlechte Image hat. „Drei Jahre haben wir mit Geldern vom Bund und dem Bezirk hier gearbeitet. Wir mussten die Anwohner des Weitlingkiezes erreichen.“ 2008, kurz vor dem Aufmarsch, gab es den Durchbruch, sagt sie. „Da kamen Gewerbetreibende zu mir und forderten, dass die Nazis auf keinen Fall durch ihr Viertel marschieren durften.“ Emmrich fühlte sich ihnen verpflichtet. Sie ging zum Innensenator. Die Route wurde nicht geändert. „Das verhinderte erst die Sitzblockade.“

Berühmter Bürgerhaushalt

Über Berlin hinaus stehen Lichtenberg und seine Bürgermeisterin noch für ein weiteres Thema: den Bürgerhaushalt. Mit Unterstützung der Bundeszentrale für politische Bildung konnten 2005 erstmals Anwohner über einen Teil der Bezirksgelder entscheiden. „Mich haben die vielen interessanten Vorschläge überrascht“, sagt Emmrich. Ungewöhnlich für direkte Demokratie: Die meisten Stimmen erhielt in einer Runde ein Migrantenprojekt. Bibliotheken wurden aufgefordert, Bücher in russischer und vietnamesischer Sprache anzuschaffen. Aber auch viele Kleinprojekte bekommen Geld. „Wenn Bürger Bänke streichen oder Bäume pflanzen, bezahlen wir Farbe und Bäume. Man muss ja das mit dem Ehrenamt nicht übertreiben“, sagt sie.

Nicht alle Auftritte gelingen der Politikerin so gut wie die gegen rechts. Politiker von CDU und SPD warfen ihr bei verschiedenen Anlässen vor, sich nicht deutlich genug von Stasi-Seilschaften distanziert zu haben. 2007 wurde deshalb ihr Rücktritt gefordert. In Lichtenberg liegen die ehemalige Stasi-Zentrale und der Ex-Stasiknast.

Für die Familie bleibt Emmrich mit ihrem Job wenig Zeit. „Ich versuche, mir jeden Sonntagnachmittag freizuhalten und ihn mit Sohn, Schwiegertochter und Enkel zu verbringen.“ Sie bekennt, sie sei weder eine Kino- noch eine Theatergängerin. Doch irgendwann soll das wieder anders werden. „Schließlich will ich hundert Jahre alt werden – aber so lange bleibe ich nicht Bürgermeisterin.“