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Archiv-Artikel

Pannenreaktor als Klimaretter

Vattenfall will das AKW Brunsbüttel länger laufen lassen. Umweltschützer warnen vor Risiken

„Ich wäre unehrlich, wenn ich sage, wir wollen 2011 auf jeden Fall abschalten“

AUS BERLIN STEPHAN KOSCH

Vattenfall will sein Atomkraftwerk in Brunsbüttel länger am Netz halten als mit der Bundesregierung vereinbart. Gestern stellte der Energiekonzern offiziell einen entsprechenden Antrag beim Bundesumweltministerium. Der umstrittene Reaktor soll nun erst Ende 2011 vom Netz und nicht bereits 2009. Erreichen will Vattenfall dies durch die Übertragung von nicht genutzten Produktionsmengen aus dem AKW Mühlheim-Kärlich. Damit beantragt nun nach RWE und EnBW der dritte Kraftwerksbetreiber in Deutschland für einen Reaktor Aufschub bis nach der nächsten Bundestagswahl.

Im sogenannten Atomkonsens hatte die damalige rot-grüne Bundesregierung mit den Energiekonzernen einen schrittweisen Ausstieg aus der Atomenergie vereinbart. Jedem Kraftwerk wurden bestimmte Produktionsmengen zugewiesen. Ist dieses Kontingent erfüllt, muss der Meiler vom Netz. Allerdings können die Betreiber auch Produktionsmengen zwischen den Kraftwerken hin und her schieben. Die Idee dabei: Wer einen alten Reaktor früher vom Netz nimmt, darf einen neueren länger laufen lassen. Nur in Ausnahmefällen ist die Übertragung von Strommengen neuerer Kraftwerke auf alte Meiler möglich. Dies muss der Bundesumweltminister genehmigen. Einen solchen Antrag hat EnBW für den Reaktor Neckarwestheim I gestellt.

Vattenfall hätte ähnlich verfahren können und mit einem Antrag das Kontingent aus dem neueren Kraftwerk Krümmel anzapfen können. Der Konzern entschied sich aber für einen anderen Weg. Eine Sonderrolle beim Stromverschieben spielt nämlich der Reaktor Mülheim-Kärlich. Das RWE-Kraftwerk musste wegen einer fehlerhaften Baugenehmigung nach 100 Tagen Regelbetrieb wieder vom Netz und ist mittlerweile stillgelegt. Laut Atomkonsens darf das Kontingent von Mülheim-Kärlich auf andere Reaktoren übertragen werden. Das Gesetz nennt sieben Meiler – Brunsbüttel ist nicht dabei.

Dennoch sieht sich Vattenfall rechtlich auf der sicheren Seite. Schließlich schließe das Gesetz die Übertragung auch auf andere Kraftwerke nicht eindeutig aus, sagte Klaus Rauscher, Vorstandschef der Vattenfall Europe AG, gestern in Berlin. Deshalb hat sich Vattenfall von RWE das Übertragungsrecht für 15 Milliarden Kilowattstunden aus Mülheim-Kärlich gekauft. Das entspricht etwa dem jährlichen Stromverbrauch von Hamburg oder Berlin.

Rauscher begründete den Antrag mit der zunehmenden Erderwärmung. „Die CO2-freie Stromerzeugung aus Kernenergie versetzt uns in die Lage, unsere wichtigen Klimaschutzziele zu erreichen“, sagte Rauscher. „Deswegen ist ein längerer Betrieb des Kernkraftwerks Brunsbüttel auch ein Beitrag zum Klimaschutz.“ Rauscher fügte hinzu, dass er eine noch längere Laufzeit als jetzt beantragt für Brunsbüttel begrüßen würde. „Ich wäre nicht ehrlich, wenn ich sagen würde, wir wollen 2011 auf jeden Fall abschalten.“ Vattenfall stehe zum Atomkonsens, allerdings habe das Thema Klimaschutz bei den damaligen Verhandlungen eine geringere Rolle gespielt als heute.

Diese Strategie stößt bei Kritikern der Atomkraft auf Ablehnung. Brunsbüttel sei eines der gefährlichsten Atomkraftwerke in Deutschland, sagt zum Beispiel Greenpeace-Energieexperte Thomas Breuer. Kein anderes deutsches Atomkraftwerk weise vergleichbare Stillstandszeiten wegen Pannen und Störfällen auf. „Diese tickende Zeitbombe, nur wenige Kilometer von der Millionenmetropole Hamburg entfernt, gehört aus Sicherheitsgründen sofort abgeschaltet.“ Für die Deutsche Umwelthilfe stellt der Reaktor das größte Sicherheitsrisiko in Norddeutschland dar. Dies zeige auch die Existenz einer Mängelliste mit über 100 Punkten, die dem schleswig-holsteinischen Sozialministerium vorliege. Um deren Veröffentlichung wird derzeit vor Gericht gestritten.

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