Wolfgang von der Wilhelmshöhe

„Ich denk nicht großartig nach beim Schreiben. Ich schreib‘ einfach so runter“ „Jeden Tag schreib‘ ich eine Seite. Die geb‘ ich dann meiner Schwester zum Abtippen“

VON CHRISTIAN WERTHSCHULTE

Ortstermin Bochum-Langendreer. Am Stadtrand, fast schon in Dortmund, liegt die ehemalige Bergarbeitersiedlung Wilhelmshöhe. Die stark befahrene Hauptstraße säumen alte Bergmannshäuser, vier Parteien in einem Haus, oben und unten zweimal drei Zimmer. Nach Osten bleibt der Blick auf einem silbernen Quader hängen, der zwischen den Häusern in der Sonne glänzt. „Dat is Opel III, dat Hochlager“, erklärt Wolfgang Welt und atmet schwer. Er muss es wissen. Seit 55 Jahren lebt er auf dem Hügel oberhalb des S-Bahnhofs Langendreer. „Grönemeyer wohnt hier nicht mehr“, hat er 1992 über seine Heimat geschrieben. Der Nöhler aus dem Pott residiert jetzt in London. Wenn er seine Mutter in Bochum besucht, widmet ihm die WAZ einen langen Artikel. Wolfgang Welt ist auf der Wilhelmshöhe geblieben.

Dabei hätte alles ganz anders kommen können. In den frühen 80ern schrieb Welt als „Pop-Dutschke von der Uni“ (Welt über Welt) von Bochum aus für Musikzeitschriften wie Sounds, Musik-Express und das Bochumer Stadtmagazin Marabo, den Vorläufer des Coolibri. Und er gab dem noch nicht trockenen Pop-Journalismus die Stimme des Ruhrgebiets. „Ich denk nicht großartig nach beim Schreiben. Ich schreib‘ einfach so runter“, bekennt er 25 Jahre später. Den Texten hat es gut getan. „Wenn ich jetzt vom Werkkreis ‚Literatur der Arbeitswelt‘ wäre, würde ich diese Maloche näher beschreiben“, erzählt das Autor-Ich Welts auf der ersten Seite seines Debütromans „Peggy Sue“. „Mir kommt es nur darauf an, zu sagen, dass ich am Ende war, im Arsch, wie es schien, ohne Zukunft, mit sechs Mark Stundenlohn.“

Pop war damals nicht die „Tristesse Royale“ späterer Adepten, das Feuilleton war in ebenso weiter Ferne wie geregelte Arbeitszeiten – und in dieser Mischung aus rücksichtsloser Subjektivität und zermürbendem Alltag war Welt so etwas wie ein Star. Er reiste mit Motörhead ohne einen Penny durch England, bezeichnete Heinz Rudolf Kunze treffsicher als „singenden Erhard Eppler“ und veröffentlichte in Diedrich Diederichsens Anthologie „Staccato“ mit anderen Autoren aus dem Umfeld von Sounds. Doch das bisschen Ruhm war nur von kurzer Dauer: „Er erzählt mir, ob ich‘s wissen will oder nicht, alles, was er in seinem Ruhrgebietsleben erlebt hat“, schrieb Diederichsen in seiner Rezension von „Peggy Sue“ 1986 in der Spex und schlug damit den Sargnagel in die Karriere von Welt.

„Ich weiß auch nicht, was den daran gestört hat. Wir ham‘ da nie drüber geredet“, erzählt Welt über seinem zweiten Bier. Wir sitzen in der letzten noch verbliebenen Wilhelmshöher Kneipe. Er erzählt vom neuen Buch von Peter Handke, der das Manuskript zu Welts letztem Roman „Der Tunnel am Ende des Lichts“ an Suhrkamp weitergeleitet hat. Der Roman ist im Sommer zusammen mit zwei anderen als Trilogie „Buddy Holly auf der Wilhelmshöhe“ erschienen.

Obwohl nach der Jahrtausendwende geschrieben, schließt der Plot nahtlos an die vorherigen Romane an. Welt zieht durch Bochum und Köln, greift Freiexemplare neuer LPs ab und stolpert von einem Konzert aufs nächste. Detailliert schildert er das Nachtleben Bochums: das Appel, das heute Zwischenfall heißt, das Rotthaus und die Zeche Bochum, in der er seine erste Lesung abhält. „Mein Gedächtnis ist mein Pfund, damit wucher‘ ich“, erzählt er und geht die Treppe in der Wilhelmshöher Kneipe herunter auf die Toilette, um zu schauen, ob es den Heizkörper noch gibt, an dem er sich vor Jahren mal eine Platzwunde zugezogen hat.

Da verwundert es wenig, dass es zwischen Autor und Fiktion nur wenig Raum gibt. „Der Tunnel am Ende des Lichts“ endet mit einer bizarren Szenerie. Wolfgang Welt hält sich für J.R. Ewing, sitzt im Bochumer Novotel und will das Manuskript der letzten Folge von Dallas per Telex an die Zeit verschicken: „Ich schrieb wie in der Vergangenheit mal wieder automatisch. Doch oder daher gab es nur einen Sinn für mich. (...) Ich war mir sicher, mein Sermon kam in die nächste Ausgabe.“ Kritiker haben Welts Persönlichkeitsauflösung mit Büchners „Lenz“ verglichen, dabei eignet sich der Bochumer nicht für die Projektionen, die Büchner aufgrund seines frühen Todes zuteil wurden. Welt besitzt ein Leben jenseits der 25, das eher den Romanen aus dem Werkkreis „Literatur der Arbeitswelt“ als Welts eigenen ähnelt.

„Ich hab alle acht Jahre einen Anfall, eigentlich wäre ich dieses Jahr wieder dran“, erzählt er und lacht. Welt nimmt heute Lithium, „das tut mir gut.“ Zweimal wurde er im Laufe seines Lebens psychiatrisiert, doch Details aus seiner Zeit in der Anstalt erzählt er nicht: „Das kommt alles in meinem nächsten Roman.“ An diesem schreibt er, wenn er seiner Arbeit als Nachtportier im Bochumer Schauspielhaus nachgeht. „Ein rundes weißes Gesicht zeichnete sich fahl gegen das morgendliche Zwielicht der Scheibe ab, stumm lächelnd oder eher grinsend, aber nicht so richtig freundlich musterte es mich“, schilderte Ex-Intendant Leander Haußmann seine erste Begegnung mit Welt im Foyer des Theaterbaus.

Haußmann hat Bochum für die Filmkarriere hinter sich gelassen, Welt sitzt immer noch jeden Abend hinter der Glasscheibe. Ab 22 Uhr hört er Radio, „Melodien zum Träumen“ auf WDR4. Neue Platten hat er sich schon lange nicht mehr gekauft, höchstens ein Re-Issue von Buddy Holly. Nach dem Ende der Sendung macht er einen Rundgang und fängt an zu schreiben: „Jeden Tag schreib‘ ich eine Seite. Die geb‘ ich dann meiner Schwester zum Abtippen.“ Bis heute besitzt er keinen Computer, seine alten Texte sind auf einer elektrischen Schreibmaschine entstanden, für die es heute keine Farbbänder mehr gibt. Einen Laptop will er sich nicht kaufen – aus Angst, dass sich sein Schreibstil ändert.

Wenn er morgens seine Schicht beendet hat, kommt er nach Hause, um sich um seine pflegebedürftige Mutter zu kümmern. „Ich mach ihr dann eine Banane und warte, bis die Caritas kommt,“ erzählt er. „Nachmittags um drei steh ich dann auf und wir gucken Telenovelas. Dann schlaf ich wieder bis um neun.“ Doch seit seiner letzten Veröffentlichung 2006 kommt wieder häufiger Besuch in die rustikal eingerichtete Wohnung mit der Sitzecke in der Küche. Sein Lektor hat ihn zum ersten Mal auf der Wilhelmshöhe besucht, er liest demnächst auf der Litcologne, Vanity Fair hat für ein Interview angefragt. „Ich freu mich immer, wenn die kommen. Der Poschardt hat mich schon vor Jahren mal angerufen und gefragt, ob ich was zum Thema Einsamkeit sagen möchte. ,Sie sind doch ein einsamer Mensch?‘, hat der gefragt. „Ne, ich bin nicht einsam‘, hab‘ ich gesagt und aufgelegt.“

Während er das erzählt, kommt ein Bekannter in den Bahnhof Langendreer, unserer letzten Station. Welt begrüßt ihn freudig per Handschlag. Im Hintergrund läuft Lou Reeds „A Perfect Day“ und Welt erzählt, wie er das Interview mit Lou Reed damals verpasste. Ob aus Schlampigkeit oder wegen psychischer Probleme bleibt sein Geheimnis. Aber ist auch egal: Die Geschichte hat er natürlich schon längst aufgeschrieben.